Das Lagos Airport Hotel liegt am Rand einer Ausfallstrasse der nigerianischen Millionenmetropole. Im schmucklosen Konferenzraum sitzen rund fünfzig Frauen und Männer, die wenigsten von ihnen sind älter als dreissig Jahre. Sie alle hatten Nigeria in den letzten Jahren mit der Hoffnung auf eine bessere Zukunft verlassen. Doch weiter als nach Libyen ist niemand gekommen. Seit einigen Wochen sind sie wieder zurück in ihrer Heimat, gezeichnet von Gewalt und Missbrauch. «Ich wollte nach Italien, um zu studieren», sagt eine junge Frau, «ich hätte nie gedacht, dass ich verkauft werden würde!»
Sie ist, wie alle hier, mithilfe der Internationalen Organisation für Migration (IOM) nach Nigeria zurückgekehrt. Die Uno-Organisation hat im vergangenen Jahr ihr Rückkehr- und Reintegrationsprogramm stark ausgebaut, in dessen Rahmen Migranten, die in Libyen gestrandet sind, freiwillig in ihre Herkunftsländer zurückkehren können. 2017 flog die IOM rund 19 000 Personen in insgesamt 13 zentral- und westafrikanische Länder zurück, die meisten von ihnen nach Nigeria. Im laufenden Jahr will sie insgesamt 30 000 Personen aus Libyen in ihre Herkunftsländer zurückfliegen. Die Organisation geht davon aus, dass sich zurzeit 700 000 Migranten in Libyen aufhalten, etwa ein Achtel davon sind Frauen.
Die IOM lädt alle Libyen-Rückkehrer in Nigeria zu einem viertägigen Training ein. Dort sollen sie neuen Mut fassen, Geschäftsideen entwickeln für den beruflichen Wiedereinstieg und in einem geschützten Umfeld von ihren Erlebnissen erzählen können. Die Menschen im Raum wirken erschöpft und niedergeschlagen. Viele von ihnen tragen Narben von Schussverletzungen, Folter und Schlägen. Ihre Berichte aus Libyen zeichnen das Bild eines Landes, in dem Menschenhandel und der Missbrauch von Migranten aus dem südlichen Afrika nicht die tragische Ausnahme sind, sondern die schreckliche Normalität.
Um einen langen Tisch sitzend, erzählen sich die Frauen und Männer ihre Geschichten. «Eines Tages sprach mich auf der Strasse ein Mann aus der Gegend an und sagte, er könne mich für wenig Geld nach Europa bringen», erzählt die 21-jährige Okoh, die Nigeria vor drei Jahren verlassen hatte. Ein Pick-up transportierte sie vom Norden des Landes ins angrenzende Niger. In Agadez musste sie rund zwei Wochen in einem Lagerhaus ausharren, ehe sie mit weiteren Migranten einen Lastwagen bestieg, der sie durch die Wüste nach Libyen brachte. Der erste Ort, an dem die meisten Migranten in Libyen haltmachen, ist Sabha, eine Kleinstadt am Rand der Wüste. «Wir wurden direkt in ein Lagerhaus gebracht, wo bewaffnete Männer auf uns warteten. Sie sagten, dass wir uns in ihrem Besitz befänden», erzählt Okoh. Nach einigen Tagen verkauften die Männer sie weiter. Für die junge Frau begann eine zweijährige Odyssee voller Missbrauch und Gewalt. Kano, Agadez, Quatrun, Tripolis: Es sind die Stationen einer Reise ins Verderben.
Okoh erzählt wie viele der Rückkehrerinnen und Rückkehrer mit grosser Nüchternheit von ihren schrecklichen Erfahrungen. Ihre Schilderungen stehen exemplarisch dafür, was viele Migranten erleben. Sie werden mit falschen Versprechen nach Libyen gelockt, wo sie in die Hände von Menschenhändlern geraten. Frauen aus Nigeria sind dabei überdurchschnittlich häufig betroffen. Die IOM geht davon aus, dass fast 90 Prozent aller nigerianischen Migrantinnen in Libyen Opfer werden von Menschenhandel. So viele wie aus keinem anderen Land.
Die Ausbeutung von Migranten hat sich in Libyen während der vergangenen Jahre zu einem eigenen Geschäftsfeld entwickelt. Neben den international vernetzten Menschenhändlern gibt es in verschiedenen Landesteilen bewaffnete Gruppierungen, die Jagd machen auf Menschen aus dem südlichen Afrika. «Man muss auf der Strasse seine Haut bedecken. Wenn die Gangs sehen, dass du schwarz bist, kidnappen sie dich», sagt ein junger Mann im Airport Hotel. Andere pflichten ihm bei. «Ich war auf einem Markt, als mich vier junge Männer packten und in einen Pick-up zerrten», sagt eine Frau. Von den Rückkehrern werden diese Gruppierungen als «Asma-Boys» bezeichnet. Junge Männer, die zu Strassengangs oder Milizen gehören und mit grosser Brutalität vorgehen.
Gemäss den Schilderungen der Migranten haben sich drei Geschäftsmodelle etabliert. Die Menschenhändler und Gangs nehmen die Migranten gefangen und erpressen von deren Familie ein Lösegeld. Sie halten sie als Sklaven und «vermieten» sie tageweise als Arbeitskräfte. Oder sie verkaufen sie weiter: Die Männer oftmals an Landwirte und Bauunternehmer. Die Frauen an Familien, wo sie als Haushaltshilfen ausgenutzt werden, oder an Betreiber von Bordellen, in denen sie zur Prostitution gezwungen sind.
In diesem Zusammenhang fällt der Name einer Ortschaft besonders häufig: Gregarage. In dem Aussenquartier der Hauptstadt Tripolis, die mehrheitlich unter der Kontrolle der libyschen Einheitsregierung steht, sollen sich bis zu hundert sogenannter Connection-Houses befinden, in denen Frauen zu Prostitution gezwungen werden. Die Rückkehrerinnen berichten von Gewalt, Infektionen und Abtreibungen. «Ich hätte mir das Leben genommen, wenn mich die anderen Gefangenen nicht davon abgehalten hätten», sagt eine junge Frau, die mehrere Monate in einem solchen Haus festgehalten wurde. Wie gefährlich die derzeitige Lage in Libyen für Migranten ist, zeigen auch Analysen von Menschenrechtsorganisationen sowie der Uno. «Bewaffnete Gruppen nehmen im ganzen Land willkürlich Menschen gefangen, foltern und töten sie», sagt Andrew Gilmour, der stellvertretende Uno-Generalsekretär für Menschenrechte. Es gebe zahlreiche Berichte von offenen Sklavenmärkten, auf denen die Migranten verkauft würden.
Die meisten der Anwesenden waren in Nigeria mit dem Ziel Europa aufgebrochen. Doch den Weg übers Meer haben nur die wenigsten gewagt. «Ich hatte kein Geld und keine Energie mehr», sagt Okoh. Irgendwann ist sie, wie die meisten hier, entkräftet und mittellos in eines der offiziellen Auffanglager gelangt. Diese stehen unter Aufsicht der libyschen Behörden, doch die Bedingungen dort sind kaum besser als in den Gefängnissen der Gangs und Milizen. Die Rückkehrer berichten von massiver Gewalt durch die Aufseher, fehlender medizinischer Versorgung und Mangelernährung. Die Zustände in manchen Auffanglagern sind auch der IOM bekannt. «Wir setzen uns für eine Verbesserung der Bedingungen ein», sagt Florence Kim, Kommunikationsverantwortliche der IOM für West- und Zentralafrika. Doch die Situation in Libyen sei chaotisch, und Zentren für Migranten hätten bei den Behörden nicht oberste Priorität.
Im ganzen Land existieren insgesamt 20 offizielle Auffanglager, zu denen die IOM Zugang hat. Dort besuchen Mitarbeiter der Organisation die Migranten und informieren sie über die Möglichkeit einer freiwilligen Rückkehr in ihre Herkunftsländer. Bevorzugt werden Frauen, Schwangere, Kranke und Kinder. Ein Grossteil der Personen nehme das Angebot in Anspruch, sagt Kim. Zurzeit warten rund 3000 auf eine Rückkehr. Die Rückführungsprozesse sind kompliziert, die meisten Migranten haben keine Ausweispapiere. Ob es der IOM gelinge, in diesem Jahr wie geplant 30 000 Personen auszufliegen, sei aufgrund der instabilen Sicherheitslage unklar, sagt Kim. So komme es beispielsweise immer wieder zu Kämpfen in Gebieten um den Flughafen.
Im Airport Hotel sitzen die Männer und Frauen nach der Mittagspause wieder im Konferenzraum und diskutieren über ihre Geschäftsideen: ein Marktstand für Frauenkleider, ein Shop für Kindernahrung, der Verleih von Videomaterial. Die meisten hatten für den Traum einer besseren Zukunft alles aufgegeben, ihre Habseligkeiten verkauft, bei Verwandten Geld geliehen. Jetzt sind sie wieder zurück in dem Land, dem sie eigentlich entkommen wollten. Viele hatten vor ihrer Abreise in Berichten davon gehört, was Migranten in Libyen droht. Sie hatten gehofft, dass sie mehr Glück haben würden, und sich damit bitter getäuscht. «Ich würde jedem raten, von dort fernzubleiben», sagt eine junge Frau. Libyen sei wie eine Falle, aus der es kaum ein Entkommen gebe.