Deborah, 25-jährig
Deborah hatte im Süden Nigerias in einer Apotheke gearbeitet, als ihr vor vier Jahren eine Frau aus der Gegend eine lukrative Stelle in einem Spital in Libyen anbot. Wenig später sass sie in einem Bus nach Niger, von dort wurde sie in einem Lastwagen durch die Wüste nach Libyen gebracht. Doch die versprochene Stelle erwies sich als Betrug. «Dort angekommen, wurde ich direkt an libysche Männer verkauft, die Frauen zur Prostitution zwingen», sagt die junge Frau.
Mit kurzen Zwischenstopps wurde Deborah vom Rand der Wüste an die Küste nach Gregarage gebracht, einem Vorort von Tripolis. In ein Haus, wo zwanzig junge Frauen auf engem Raum als Prostituierte gehalten und zu ungeschütztem Sex gezwungen werden. «Die Frauen schlafen auf dünnen Matratzen in überfüllten Zimmern. Nur durch eine Tür getrennt von jenem Raum, in dem sie täglich mehrere Männer befriedigen müssen», erzählt Deborah am Tisch in einer Bar des Airport Hotel. Sie spricht mit ungerührter Stimme und geradem Blick von ihren Erlebnissen.
Die Kunden seien mehrheitlich Libyer gewesen, sagt sie. Aber auch Männer aus den Nachbarländern und Gastarbeiter aus Bangladesh hätten das Haus häufig besucht. «Der Sex vor Ort kostete weniger als 10 Dollar, wer mehr zahlte, konnte uns Frauen nach Hause mitnehmen.»
Die Verantwortliche des sogenannten Connection-House war ebenfalls Nigerianerin. Als sie von Deborahs Ausbildung als Apothekerin erfuhr, machte sie sich das zunutze. «Ich musste mich nicht mehr prostituieren, dafür musste ich die Frauen behandeln», sagt die 25-Jährige. Viele seien krank geworden. Hepatitis sei besonders verbreitet gewesen, häufig musste sie auch Abtreibungen durchführen. Dazu spritzte sie den Frauen ein Hormon, mit dem der Geburtsvorgang eingeleitet wurde. «Es kam immer wieder vor, dass Frauen in der Folge starben.» Etwa ein Jahr lang habe sie in dem Haus gearbeitet, sagt Deborah. Allein in Gregarage gebe es mehr als hundert solcher Connection-Houses, schätzt sie. Die Betreiber der Häuser seien gut organisiert. Sie hätten Agenten in Nigeria und entlang der Reiseroute nach Libyen, die gezielt nach geeigneten Frauen Ausschau hielten.
Als immer mehr minderjährige Frauen in das Haus angeschleppt wurden, habe sie es irgendwann nicht mehr ertragen. «Ich wollte nur noch zurück nach Nigeria.» Sie sei aus dem Haus geflüchtet und in eines der offiziellen Auffanglager gelangt, wo sie nach einigen Monaten mithilfe der Internationalen Organisation für Migration (IOM) nach Nigeria habe zurückkehren können.
Verschleppt und erpresst
Ademola, 27-jährig
Ademola betrieb in einer Stadt in Ekiti State im Südwesten des Landes eine kleine Druckerei. Als ihm vor einigen Monaten ein Mann anbot, er könne ihn für wenig Geld nach Europa bringen, entschied er sich trotz seinem Job, Nigeria zu verlassen. In der Hoffnung auf ein besseres Einkommen liess er seine Frau und seine beiden Kinder zurück. Aus Kano im Norden Nigerias brachte ihn ein Bus über die Grenze nach Niger. Nach einem Zwischenstopp in Agadez brachte ihn ein Lastwagen durch die Wüste.
In Sabah im Süden Libyens wurde er nach seiner Ankunft sofort an bewaffnete Männer übergeben, die ihn in ein unterirdisches Gefängnis brachten und ihn zwangen, seine Eltern anzurufen. «Am Telefon forderten sie von ihnen ein Lösegeld und drohten damit, mich andernfalls umzubringen», sagt Ademola. Sein Vater, ein einfacher Bauer, bat Verwandte um finanzielle Unterstützung und verkaufte einen Teil seines Landes. Schliesslich überwies er die geforderten 800 Dollar an die Erpresser. Ein paar Tage später wurde Ademola freigelassen. Er reiste weiter und fand in der Nähe von Misrata bei einem Bauern eine bezahlte Arbeit. «Ich sparte Geld für meine Weiterreise nach Europa», erzählt der 27-Jährige.
Doch eines Nachts traten bewaffnete Männer die Tür zu seinem Zimmer ein. Sie nahmen ihn mit und brachten ihn in eine Art Verlies. Vier weitere Migranten waren bereits dort, zwei von ihnen aus Ghana, zwei aus Nigeria. «Jeden Morgen legten sie uns Ketten an die Füsse und fuhren uns zu einer Baustelle.» Die Männer hätten sich oft maskiert und schwere Waffen bei sich getragen. Sie seien Teil einer grösseren Gruppierung gewesen, glaubt Ademola. Von welcher genau, kann er nicht sagen.
An einem besonders heissen Tag waren er und die anderen Migranten so entkräftet, dass sie kaum mehr arbeiten konnten. Ein Aufpasser begann, sie brutal zu schlagen. Als sich die Migranten zur Wehr setzten, wurde einer von ihnen erschossen. «Mir schlug er den Kolben seines Gewehrs ins Gesicht», erzählt Ademola mit eindringlicher Stimme. Er zeigt mit dem Finger auf eine Narbe an seiner Oberlippe und auf die fehlenden Zähne. Mehrere Wochen später brachten ihn die Männer, ohne einen Grund zu nennen, zu einem der offiziellen Flüchtlingslager. «In diesem Camp war es kaum besser als in den Gefängnissen davor.» 300 Personen hätten sich einen grossen Raum geteilt, es gab zu wenig zu essen, kein fliessendes Wasser, kein Telefon, kein Internet. Die Aufseher hätten die Migranten regelmässig geschlagen. Er habe viele Menschen sterben sehen, als Folge von Krankheit oder durch die Schläge.
Nach einem halben Jahr seien Mitarbeiter der IOM aufgetaucht und hätten gefragt, wer in seine Heimat zurückkehren möchte. Ademola zögerte nicht. Sie hätten ihm neue Kleider gegeben und ihn zusammen mit über hundert weiteren Nigerianern nach Lagos geflogen. «Als ich von hier aufgebrochen war, hatte ich rund 2000 Dollar. Als ich zurückkam, hatte ich nichts mehr.» Vorwürfe mache ihm niemand. «Meine Familie ist einfach froh, dass ich noch am Leben bin.» Nun arbeitet er auf dem Bauernhof seines Vaters. Am liebsten aber, sagt er, möchte er in seine frühere Druckerei zurück.
An einen Plantagenbesitzer verkauft
Yisa, 24-jährig
Er sei ein talentierter Fussballer, antwortet Yisa auf die Frage, weshalb er Nigeria verlassen hatte. «Ich hoffte, dass ich in Europa einen Verein finden würde, bei dem ich spielen könnte.» Sein Geld verdiente Yisa als Mechaniker in einer kleinen Werkstatt in der Nähe von Lagos. Damit er den Schlepper bezahlen konnte, musste sein Vater einen Teil seiner Felder verkaufen. Knapp 1000 Dollar habe die Reise nach Libyen gekostet, sagt Yisa. In einem Kleinbus gelangte er nach Niger. Von dort brachte ihn ein mit zwei Dutzend Migranten bepackter Lastwagen weiter durch die Wüste nach Libyen. Weil sie von den Schleppern zu wenig Wasser bekommen hätten, sei die Hälfte der Migranten unterwegs verdurstet, erzählt Yisa. In Libyen angekommen, fiel er im Süden des Landes nach wenigen Tagen in die Hände einer Gang, die ihn auf offener Strasse aufgriff und entführte.
«Sie versuchten meine Eltern zu erpressen. Doch mein Vater war nicht in der Lage, den vollen Betrag zu bezahlen. Daraufhin haben mich die Männer weiterverkauft.» Er sei in ein Lagerhaus gebracht und dort mit dreissig weiteren Migranten festgehalten worden, abends hätten die Männer Verkaufsaktionen durchgeführt. «Es kamen Bauern, Bauunternehmer und andere potenzielle Käufer in das Lagerhaus. Wir mussten uns in einer Reihe aufstellen und wurden begutachtet.» Die meisten kauften gleich mehrere Männer aufs Mal. Eines Abends wurde auch Yisa von einem Bauern ausgewählt. Wie viel dieser für ihn bezahlt hatte, weiss Yisa nicht. In der Regel hätten die Händler pro Person knapp 450 Dollar verlangt.
Der Bauer betrieb eine Wassermelonenplantage. Dort musste Yisa zusammen mit zwei weiteren Migranten jeden Tag bei grosser Hitze bis zu zehn Stunden arbeiten. Einmal täglich bekamen sie etwas zu essen, schlafen mussten sie in einer kleinen Hütte, wo der Bauer sie in der Nacht einsperrte. «Der Mann behandelte uns nicht schlecht, er schlug uns nicht. Aber wir bekamen kein Geld und durften den Hof nicht verlassen», erzählt der 24-Jährige. Als er den Bauern eines Nachmittags auf den Markt begleitete, gelang ihm die Flucht. Auf der Strasse lernte er einen Nigerianer kennen, der bereits seit vielen Jahren in Libyen lebte. Er nahm Yisa zu sich nach Hause und brachte ihn ein paar Wochen später zum Büro der IOM in Tripolis. «Nach Europa wollte ich nicht mehr. Ich hatte kein Geld mehr und war erschöpft», sagt Yisa. Nur sieben Monate nachdem er das Land verlassen hatte, kehrte er nach Nigeria zurück. «Ich danke Gott, dass ich noch lebe.» Jetzt hofft er, dass er bald wieder eine Arbeit als Mechaniker findet.
Sie will das Grauen vergessen
Pavour, 19-jährig
Sie sei aus Verzweiflung aufgebrochen, sagt Pavour. «Ich habe für mich keine Zukunft mehr gesehen in Nigeria.» Es war Anfang 2017, sie hatte eine Ausbildung als Schneiderin abgeschlossen, aber keine Arbeit gefunden. In Italien, so hoffte sie, könne sie Geld verdienen. Noch bevor sie libyschen Boden betrat, wurde sie ausgeraubt und sexuell missbraucht. Als Pavour von den letzten Monaten erzählt, versagt ihr immer wieder die Stimme, häufig bricht ihre Erzählung unvermittelt ab. Ihre Reise, die sich kaum in Worte fassen lässt, kann sie nur in Bruchstücken wiedergeben. Die 19-Jährige ist eine der wenigen der Rückkehrerinnen und Rückkehrer, die in Libyen die Überfahrt nach Europa wagten. Doch kurz nachdem ihr Schlauchboot am frühen Morgen das libysche Ufer verlassen hatte, begann es zu sinken.
Ein Schiff mit bewaffneten Männern sei aufgetaucht und habe sie zurück an die Küste gebracht. Dort gelangte sie in die Hände einer der zahlreichen Gangs, wurde verkauft und weiterverkauft, bis sie nicht mehr wusste, wo im Land sie sich befand. Schliesslich gelangte sie in ein Connection-House, wo man sie zur Prostitution zwang. Um dem Missbrauch zu entgehen, täuschte sie ihre Menstruation vor.
Nach wenigen Wochen wurde sie von einem Mann mitgenommen, der sie zu einer Familie brachte, wo sie als Haushaltshilfe arbeiten und zwei kleine Kinder beaufsichtigen musste. «Meinen Lohn musste ich jede Woche an jenen Mann abliefern, der mich zu dieser Familie gebracht hatte.» Sie habe sich frei bewegen können und hätte jederzeit gehen können, sagt sie. Doch sie wusste nicht, wo genau sie war und wo sie hätte Zuflucht finden können. Ein Nachbar half ihr schliesslich, zu entkommen, und brachte sie in eines der offiziellen Lager. Dort wartete sie während Monaten, ohne das Lager verlassen zu dürfen und ohne zu wissen, wie es für sie weitergehen würde. «Libyen ist eine Falle», sagt sie. Ohne fremde Hilfe gebe es keinen Weg zurück, und bei der Fahrt über das Meer drohe der Tod. Zurück in Nigeria, möchte sie nur eines: vergessen und ein neues Leben beginnen.