Reto Knutti gehört zu den führenden Klimaforschern weltweit. Ein Gespräch über brennende Wälder, die Lehren der Corona-Krise und die Unwahrscheinlichkeit des Weltuntergangs.
Herr Knutti, war 2020 für das Weltklima ein gutes Jahr?
Die Luftqualität hat sich als Folge von Corona kurzfristig verbessert, der CO2-Ausstoss ist 2020 leicht gesunken. Aber die industrielle Produktion ist noch immer da. Die Heizungen laufen weiter, wir müssen immer noch essen. Dies zeigt, dass wir das Klima mit einem Lockdown nicht retten können. Wir lösen es nur mit einer Dekarbonisierung, dem Ausstieg aus fossilen Energiequellen. Immer wieder erreichen uns alarmierende Meldungen von Höchsttemperaturen in der Arktis, von tauenden Permafrostböden und Waldbränden. Die CO2-Konzentration in der Luft steigt weiter stark an. Gleichzeitig arbeiten immer mehr Länder und Firmen an einer drastischen Reduktion der Emissionen.
Wo stehen wir?
Einzelne Katastrophen lassen sich medial gut verkaufen. Es stellt sich jeweils die Frage, wie repräsentativ diese sind. Überraschend waren für mich die Waldbrände in Kalifornien und Australien, die man so früh nicht in diesem Ausmass kommen sah. Dabei war der Klimawandel vermutlich nicht der einzige Faktor. Im Wesentlichen entwickelt sich das Klima so, wie wir es vorausgesagt haben. Der Rückgang des Meereises, die Temperaturanstiege, das entspricht ziemlich genau unseren Vorhersagen. Nur können sich die Leute unter den Prognosen der Wissenschaft oft wenig vorstellen. Wenn dann die ersten Ereignisse und Bilder davon auftauchen, reagieren sie anders, als sie es selbst erwarten. Der Mensch bezeichnet sich gerne als rationales Wesen. Die meisten unserer Entscheide treffen wir aber aufgrund von Emotionen, das zeigt die Forschung. Für den Klimaschutz wäre es also besser, wenn gewisse Extremereignisse früher eintreffen würden, da sie, wie etwa die Waldbrände in Australien, die Menschen wachrütteln? Das klingt etwas blöd, aber es stimmt. Dies zeigen auch Umfragen. Wenn Florida oder New Orleans von einem grossen Wirbelsturm getroffen werden, steigt die Bereitschaft für Klimaschutz kurzfristig massiv an. Der Mensch ist sehr empfänglich für solche Ereignisse. Als Naturwissenschaftler finde das etwas tragisch. Es zeigt, dass die meisten Menschen kaum fähig sind, faktenbasierte Entscheide zu treffen.
RETO KNUTTI 47, ist Professor für Klimaphysik an der ETH Zürich und gehört zu den Leitautor*innen von Berichten des Weltklimarates IPCC.
Unser letztes Gespräch liegt zwei Jahre zurück, die Klimabewegung stand noch ganz am Anfang. Damals machten Sie im Gespräch einen etwas resignierten Eindruck. Sind Sie heute zuversichtlicher, dass wir die Klimaziele von Paris einhalten werden?
Ja, ich bin optimistischer. Vor den Klimastreiks passierte eigentlich nichts. Die Fakten waren seit Langem bekannt, aber niemand wollte handeln. Ich habe den Eindruck, dass die vergangenen zwei Jahre in der öffentlichen Wahrnehmung viel bewirkt haben. In der Wirtschaft, der Politik, aber auch der Gesellschaft insgesamt. Der Klimawandel wurde von einem links-grünen Weltretter-Anliegen zum Mainstream. Inzwischen sagt auch eine Partei wie die FDP, wir müssen handeln. Wenn dann Joe Biden wieder dem Klimaabkommen beitritt, haben wir mit China, der EU und England sechzig Prozent aller weltweiten CO2-Emissionen unter einem Netto-Null-Ziel. Und auch immer mehr Firmen erkennen, dass wir endlich handeln müssen. Auch aufgrund von sachlichen Risikoüberlegungen.
Aber die Ankündigung von Zielen ist das eine, die Umsetzung bekanntlich etwas anderes. Gemessen am CO2-Ausstoss hat sich noch wenig verändert, das gilt auch für die Schweiz. Ist das globale Umdenken auch ein Erfolg der Wissenschaft?
Die erarbeiteten wissenschaftlichen Grundlagen sind zentral. Der Druck aber kam von der Gesellschaft, vor allem der Jugend. Die Politik liess sich von den Hunderttausenden treiben, die für den Klimaschutz auf die Strasse gingen. Der Dialog zwischen Wissenschaft und Politik ist besonders in der Schweiz ungenügend, andere Länder machen das besser. In Deutschland gibt es einen Wissenschaftsbeirat der Regierung, mit dem sich Angela Merkel regelmässig trifft.
Was wird passieren, wenn es bei den Ankündigungen bleibt und der CO2-Ausstoss weiter steigt wie bisher?
Er wird mit Sicherheit nicht mehr so steigen wie bisher, weil das ökonomisch keinen Sinn mehr ergibt. Kohle ist tot, die Preise sind viel zu hoch und steigen weiter. Ein Teil des Ausstosses wird damit auf jeden Fall zurückgehen. Man kommt im Moment auch etwas weg von diesen Horrorszenarien, wo man den Trend der letzten Jahrzehnte einfach extrapoliert hat.
Eine fünf Grad wärmere Erde wird es also nicht geben?
Mit den beschlossenen Massnahmen steuern wir auf eine drei bis vier Grad wärmere Erde zu. Auch das ist immer noch zu viel. Im letzten Jahrhundert hatten wir eine Erwärmung von einem Grad und die Auswirkungen sind deutlich. Mit einem Grad kann man noch umgehen, mit dem zweiten knapp und mit dem dritten wird es extrem schwierig.
Wie müssen wir uns denn eine drei Grad wärmere Erde vorstellen?
Einige Küstenabschnitte wären überschwemmt, es gäbe keine Gletscher mehr, viele Tierund Pflanzenarten würden aussterben. Ein solcher Planet wäre zwar nicht unbewohnbar, doch es wäre dies eine Welt, die völlig anders aussieht als jene, die wir heute kennen.
Gewisse Akteurinnen in der Klimabewegung setzen auf Weltuntergangszenarien und sprechen von einer unbewohnbaren Erde. Es gibt auch Sachbücher, die solche Szenarien beschreiben. Sie sagen nun, unbewohnbar wird die Welt nicht. Wem soll man glauben?
Auch innerhalb der Klimabewegung machen gewisse Gruppen Aussagen, die wissenschaftlich unhaltbar sind. Extinction Rebellion ist so ein Beispiel; einige Anhängerinnen verbreiten das Szenario, dass Milliarden von Menschen in den nächsten Jahrzehnten aussterben. Dafür gibt es wissenschaftlich keinerlei Hinweise. Es wird auf beiden Seiten des Spektrums oft faktenfrei diskutiert. Wie kann man sich in dieser Diskussion orientieren? Wer zuverlässige Fakten sucht, darf sich nicht an eine Person halten. Es gibt zahlreiche Berichte, in denen Dutzende von Forscherinnen ihr Wissen zusammentragen. Der Bericht vom Weltklimarat gehört dazu. Das sind zuverlässige Quellen. Man muss nicht den Teufel an die Wand malen, damit allen klar wird, dass wir jetzt handeln müssen. Es gab im vergangenen Jahr viele hoffnungsvolle Signale.
Die EU hat angekündigt, bis 2050 klimaneutral zu werden. Ein Meilenstein für den Klimaschutz? Es ist das, was die Wissenschaft seit Langem sagt, und das ist, was nötig ist. Nur so können wir die Klimaziele von Paris noch einhalten. Wenn der ganze Planet bis 2050 auf Netto-Null ist, haben wir gute Chancen, dass wir die Klimaziele von Paris erreichen. Die Klimabewegung fordert Netto-Null bis 2030.
In Basel- Stadt wird die Bevölkerung darüber abstimmen. Ist dies aus wissenschaftlicher Sicht ein vernünftiges Ziel?
Früher als 2050 wäre sicher besser, aber es wird bald einmal unrealistisch. Netto-Null bis 2030 wäre schweizweit machbar, wenn wir einen grossen Teil der Emissionen im Ausland kompensieren. Aber im eigenen Land ist das innerhalb von zehn Jahren mit unserem heutigen System nicht umzusetzen. Die Entscheidungsprozesse und technologischen Erneuerungsraten lassen das nicht zu.
Für Schlagzeilen sorgten im vergangenen Jahr auch die Ankündigungen von grossen Ölfirmen wie BP und Shell. Auch sie wollen bis 2050 klimaneutral werden. Kritikerinnen sprechen von Greenwashing. Wie schätzen Sie das ein?
Das sind sicher wichtige Signale. Diese Konzerne haben sich solchen Zielen lange Zeit entgegengestellt und den Klimawandel geleugnet oder kleingeredet. Während über fünfzig Jahren hat die Erdölindustrie viel Geld bezahlt, um die Politik zu manipulieren und die Bevölkerung in die Irre zu führen. Einhalten können sie ihre Klimaziele aber nur dann, wenn sie viel Geld in Technologien investieren, mit denen der Atmosphäre CO2 entzogen wird.
Wie gross ist das Potenzial solcher technologischen Lösungen?
Es gibt vielversprechende Projekte. Etwa die Speicherung von CO2 im Gestein, das funktioniert bereits heute. Solche Technologien sind aber kein Freipass, damit die Menschheit weitermachen kann wie bisher. Das ist weder technisch möglich noch ökonomisch sinnvoll. Es ist viel günstiger, den Ausstoss zu minimieren, als das CO2 wieder aus der Luft zu holen. Zurzeit stossen wir jedes Jahr vierzig Milliarden Tonnen CO2 aus, das sind unvorstellbar grosse Mengen. Die Speicherung ist der Notnagel für das, was wir bis 2050 nicht schaffen.
Die Corona-Krise stellt die Gesellschaft und die Politik vor ähnliche Herausforderungen wie der Klimawandel. Wir müssen unser Verhalten und unsere Gewohnheiten ändern um Risiken zu minimieren. Was für Lehren können wir daraus ziehen?
Man kann viele Analogien zum Klimawandel finden. Es sind die genau gleichen Mechanismen und Fragen, die sich stellen. Wir haben in der Pandemie deutlich gesehen, was passiert, wenn die Politik zu wenig auf die Wissenschaft hört: Dann fliegt es einem um die Ohren. Wir sind voll in die zweite Welle reingerannt, ob wohl wir sie haben kommen sehen. Aber vielleicht ist es einfach das Naturell des Menschen, dass wir immer erst dann reagieren, wenn es schon weh tut.
Wie kann es gelingen, die Bevölkerung für die Umsetzung der Klimaziele rechtzeitig ins Boot zu holen?
Man muss den Menschen klarmachen, dass wir vom Mikado wegkommen müssen – dieser Idee, dass verloren hat, wer sich zuerst bewegt. Klimaschutz lohnt sich für jedes Land, das ein bisschen langfristig denkt. Wie schon gesagt, das ist viel günstiger, als wenn wir nichts tun und dann die Folgen bekämpfen müssen. In der Vermittlung können Vorbilder eine wichtige Rolle spielen, da sehe ich viel Potenzial. Ich denke zum Beispiel an die Kirchen, die Kunstszene, den Musikbereich, den Sport. Wenn mehr prominente Akteure zu mehr Klimaschutz aufrufen, erreichen wir nochmals ein ganz anderes Publikum. Sie erwähnen immer wieder den ökonomischen Wert des Klimaschutzes. Haben wir nicht auch eine ethische Verantwortung, dass wir unsere Ökosysteme für die Nachwelt erhalten? Natürlich haben wir das, und das Grundprinzip der nachhaltigen Entwicklung steht weit oben in der Bundesverfassung. Leider ist es mit der Ethik oft schnell vorbei, wenn es ums Geld geht. Oder wie Bertolt Brecht es formulierte: «Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.» Dabei gibt es keinen Widerspruch zwischen Klimaschutz und Wirtschaft oder zwischen Corona und Wirtschaft. Was der Natur und Gesellschaft nützt, hilft langfristig auch der Wirtschaft. Klimaschutz lohnt sich auch aus einer Risikoperspektive heraus.
Sie gehören weltweit zu den führenden Forschenden bei einem Thema, das sehr emotional diskutiert wird. Sie entwickeln Szenarien, die Angst machen können. Wie gelingt es Ihnen, einen kühlen Kopf zu bewahren?
Auch ich habe zwei kleine Kinder. Wenn ich mich frage, wie unsere Welt in fünfzig Jahren aussieht, dann zerreisst es mich manchmal. Diese Momente gibt es. Aber in der Wissenschaft und der Kommunikation versuche ich das auszublenden. Meine Aufgabe ist, objektiv und analytisch zu informieren und zu erklären. Ich sehe mich wie ein Notarzt, der einen kühlen Kopf bewahren und dafür sorgen muss, dass der Patient nicht stirbt. Was die Politik und die Gesellschaft mit diesem Wissen tun, das liegt ausserhalb von unserem Einflussbereich. Und das gilt es zu akzeptieren.
Zum Schluss: Das Jahr 2021 wird für den Klimaschutz ein gutes Jahr, wenn …? … wenn wir aus der Pandemie lernen, wie wir mit Krisen, Expertenwissen und Risiken umgehen. Und erkennen, dass wir bestehende Strukturen durchbrechen müssen und können. Einerseits materiell, indem wir die Finanzspritzen nach Corona für eine nachhaltige Wirtschaft einsetzen. Andererseits mental, indem wir unsere Pläne nicht daran ausrichten, was uns heute möglich erscheint, sondern daran, was für die Zukunft nötig ist.