Wenige Hundert Meter hinter der Landesgrenze halten die Fahrzeuge vor einem grauen Gebäudekomplex. Umgeben von Stacheldraht und hohen Mauern liegt das Bundesempfangszentrum Basel. Die deutschen Polizisten begleiten die Familie bis zum Eingang, steigen in ihre Fahrzeuge und fahren davon.
Will man das Unheil beschreiben, das die Familie seit ihrer Abschiebung in die Schweiz erlebt, fällt ein Anfang schwer. Es geht um ein rechtswidriges Verfahren, verhinderten Zugang zu medizinischer Versorgung, um eine Operation in letzter Minute und ein verlorenes Kind. Doch zuerst soll die Vorgeschichte erzählt werden.
Die Familie Tahmazov stammt aus Aserbaidschan. Der Sohn Mirsadig war als kleines Kind an einer Hirnhautentzündung erkrankt. Seither kann er nicht mehr sprechen, gehen und greifen. Seine Arme und Beine sind teilweise gelähmt, er leidet unter Krämpfen und epileptischen Anfällen. Die medizinische Versorgung in Aserbaidschan ist prekär, der Zugang zu Medikamenten und Krankenhäusern sehr teuer. Für einen Rollstuhl fehlte den Eltern das Geld, zweimal im Jahr kam ein Arzt nach Hause. Unterstützung vom Staat erhielten sie keine. Weil der Vater vor wenigen Jahren seine Arbeit verloren hatte, verschuldete sich die Familie und verkaufte fast ihren ganzen Besitz für die weitere Behandlung. Als ihnen schliesslich auch das Geld für die teuren Medikamente ausging, entschieden sich die Eltern zur Ausreise nach Deutschland, wofür sie sich bei Verwandten verschuldeten. In der Hoffnung, dass ihr Sohn dort jene Hilfe erhält, die sie sich für ihn wünschen.
Nach der Ankunft in Deutschland im Frühjahr 2018 entwickeln sich die Dinge zunächst so, wie es sich die Eltern erhofft hatten. Die deutschen Behörden bringen die Familie in eine behindertengerechte Unterkunft in der Nähe von Düsseldorf. Mirsadig wird medizinisch umfassend untersucht, die Familie besitzt einen ganzen Stapel von Arztberichten aus jener Zeit. Die Ärzte messen seine Gehirnaktivitäten, untersuchen sein Blut. Sie stellen die Medikamente um, geben einen auf ihn angepassten Rollstuhl in Auftrag, er erhält regelmässig Physiotherapie. Zum ersten Mal seit langer Zeit verbessert sich sein Zustand. Die Behörden reservieren einen Platz in einer Förderschule, sein Bruder Rufat besucht das Gymnasium und lernt in kürzester Zeit fliessend Deutsch. Von nun an kümmert er sich um den Kontakt mit den Behörden. Die Mutter wird erneut schwanger. «Für uns begann ein neues Leben», sagt der Vater. Doch das Glück der Familie nimmt ein jähes Ende.
Im vergangenen März stellen die Behörden fest, dass die Eltern vor ihrer Ausreise ein Visum für die Schweiz beantragt hatten und somit die Schweiz für ihr Asylgesuch zuständig ist. Mitten in der Nacht stehen sieben Polizisten in der Wohnung. Der Familie bleibt eine halbe Stunde, um ihre Sachen zu packen. Vor der Tür warten die beiden Kleintransporter zur Weiterfahrt in die Schweiz. Die Abschiebung trifft die Familie unvorbereitet. Die Behörden haben den Termin den Eltern im Voraus nicht mitgeteilt. Eine Praxis, die zuletzt vom Antifolterkomitee des Europarats kritisiert wurde. Auch der Anwalt der Familie wurde nicht informiert. Dieser hatte wenige Wochen zuvor noch Einsprache gegen den Entscheid zur Abschiebung erhoben, doch das Deutsche Bundesamt für Migration wies seine Beschwerde ab. Begründung: Die medizinische Versorgung in der Schweiz sei mit jener in Deutschland vergleichbar: Es spreche nichts dafür, «dass der Antragsteller dort nicht Zugang zu diesem System erhalten könnte».
Nach ihrer Ankunft in der Schweiz beobachten die Eltern besorgt, wie sich der Zustand ihres Sohnes verschlechtert. Sie wohnen mit 200 weiteren Asylsuchenden im Bundeszentrum Basel. Mirsadig wirkt unruhig, er schreit jetzt öfter und schlägt sich immer wieder mit der Hand gegen den Kopf. Die Eltern möchten, dass ihr Sohn ärztlich untersucht wird. Selber sprechen sie kein Deutsch, einen Übersetzer für Aserbaidschanisch gibt es nicht. Ihr Sohn Rufat wird immer mehr zu ihrer Verbindung zur Aussenwelt. Über Wochen habe er die zuständige Pflegefachfrau im Zentrum verzweifelt um einen Arzttermin gebeten, so Rufat. Sie habe die Familie immer wieder aufs Neue vertröstet. Auch Physiotherapie, auf die Mirsadig angewiesen wäre, erhält er keine.
Es ist der 1. Juli – fast drei Monate nach der Ankunft in der Schweiz –, als Mirsadig laut der Familie erstmals von einem Kinderarzt untersucht wird. In den Tagen zuvor habe sich sein Zustand weiter verschlechtert. Er habe immer wieder erbrechen müssen und während Minuten ohne Unterbruch geschrien. Rufat drängte bei der Gesundheitsfachfrau erneut darauf, dass sein Bruder endlich einen Arzt sehen kann. Es ist wohl Rufats Einsatz und seinen Deutschkenntnissen zu verdanken, dass Mirsadig am nächsten Tag einen Kinderarzt sehen kann. Dann geht mit einem Mal alles schnell: Der Arzt schickt die Familie auf die Notfallstation des Kinderspitals. Dort stellen SpezialistInnen fest, dass sich im Schädel von Mirsadig ein implantiertes Gerät abgelöst hat: Ein sogenannter VP-Shunt reguliert seit Beginn seiner Erkrankung den Hirndruck. Weil das Gerät nicht mehr funktionierte, war dieser über Wochen gefährlich angestiegen. Ein solcher Anstieg geht gemäss medizinischem Lehrbuch in der Regel mit starken Schmerzen einher. Die Obergrenze liegt bei 15 Millimeter Quecksilbersäule (mmHG), bei Mirsadig hatte der Druck bedrohliche 25 mmHG erreicht. Am nächsten Morgen früh öffnen die Ärzte in einer dringenden Operation seinen Schädel und setzen ein neues Gerät ein. Gerade noch rechtzeitig: Unbehandelt führt ein erhöhter Hirndruck zu Blindheit, Koma und endet im schlimmsten Fall tödlich.
«Der Zugang zur medizinischen Grundversorgung ist gewährleistet» – so steht es im Konzept des Bundes zur Gesundheitsversorgung für Asylsuchende. Dort wird auch die Grundversorgung definiert: Physiotherapie, ärztliche Kontrollen und Zugang zu SpezialistInnen zählen zwingend dazu. Die Uno-Kinderrechtskonvention – für die Schweiz verbindliches Völkerrecht – schreibt den Staaten zudem vor, das Wohl des Kindes vorrangig zu berücksichtigen.
Dass Mirsadig Tahmazov während Monaten auf einen Arzttermin warten musste, könnte als dramatischer Ausnahmefall erscheinen. Doch viel wahrscheinlicher ist: Die Pflegefachfrau handelte nach Vorschrift. Denn in besagtem Konzept des Bundes steht weiter: «Bei Erkrankungen, die aus Sicht der Gesundheitsbeauftragten keine sofortige Behandlung erfordern, wird mit der Behandlung gewartet, bis die Asylsuchenden einem Kanton zugewiesen wurden.» Zugang zur medizinischen Grundversorgung erhalten Asylsuchende in den Zentren des Bundes also nur mit Einwilligung der Gesundheitsbeauftragten. Nach welchen Kriterien diese entscheiden, bleibt unklar.
Der Fall macht deutlich: Selbst kranke und schwer beeinträchtigte Minderjährige haben offenbar keinen freien Zugang zu ärztlicher Versorgung. Das aktuelle Konzept ist bereits seit 2012 in Kraft. Damals blieben die Asylsuchenden maximal dreissig Tage in einem Bundeszentrum, danach wurden sie an einen Kanton überwiesen und einem Hausarzt zugeteilt.
Seit Anfang Jahr ist das neue Asylverfahren in Kraft. Mit diesem sollen die Asylverfahren «schneller, fairer und günstiger» werden, wie SP-Bundesrätin Simonetta Sommaruga angekündigt hatte. Neu bleiben die Asylsuchenden bis zu 140 Tage in den Bundeszentren. Sie werden erst an die Kantone überwiesen, nachdem der Bund ihr Gesuch geprüft hat. Haben sie ein medizinisches Leiden, entscheidet bis dahin die Gesundheitsbeauftragte darüber, ob sie einen Arzt sehen dürfen oder nicht. Diese untersteht den Richtlinien des Bundes, wird aber von der jeweils zuständigen Betreuungsfirma angestellt. Sie ist in den Zentren die erste Ansprechperson bei gesundheitlichen Problemen, informiert die Asylsuchenden über ansteckende Krankheiten und führt bei Neuangekommenen eine medizinische Erstbefragung durch.
Doch wenn es darauf ankommt, ist der Zugang zu medizinischer Versorgung stark eingeschränkt. Noémie Weber von der Schweizer Beobachtungsstelle Asyl- und Ausländerrecht bezeichnet die Situation als «sehr besorgniserregend». Wenn behinderte Kinder in den Bundeszentren nur beschränkten Zugang zur medizinischen Grundversorgung erhielten, sei das nicht tolerierbar.
Caroline Hess-Klein von Inclusion Handicap, dem Dachverband der Schweizer Behindertenorganisationen, sagt: «Die Uno-Behindertenrechtskonvention sagt klipp und klar: Menschen mit Behinderungen haben einen Anspruch auf Zugang zu medizinischer Versorgung. So wie der Fall erscheint, sind die Rechte des Betroffenen eindeutig verletzt.» Hess-Klein weist darauf hin, dass allen Menschen ein uneingeschränkter Zugang zu medizinischer Grundversorgung zusteht. «Dieses Kind ist aber besonders darauf angewiesen, einen Arzt zu sehen.»
Mit dem Fall konfrontiert, bestreitet das Staatssekretariat für Migration (SEM) sämtliche Vorwürfe. «Allen Asylsuchenden wird die Möglichkeit für eine medizinische Erstkonsultation angeboten», schreibt Pressesprecherin Emmanuelle Jaquet von Sury. Falls notwendig, erfolge eine Überweisung an einen Grundversorger. Ist das SEM der Meinung, in diesem Fall seien Fehler passiert? Offenbar nicht. «Nach Prüfung der vorliegenden medizinischen Akten können wir bestätigen, dass das Kind jederzeit adäquat medizinisch behandelt wurde.» Trotz einer schriftlichen Einverständniserklärung der Eltern war das SEM nicht bereit, Einsicht in ihre Akten zu gewähren.
Auch die Mutter erhielt zu einem womöglich entscheidenden Zeitpunkt keinen Zugang zu einem Arzt. Als sie in der Schweiz ankommt, ist sie im vierten Monat schwanger. «Risikoschwangerschaft» steht auf einem Arztbericht aus Deutschland, sie hatte in den ersten Monaten starke Blutungen. Nach der Ankunft im Bundesasylzentrum Basel schickt die Zentrumsleiterin die Mutter zu einem Kontrolltermin ins Spital. Ulkar Tahmazov sieht im Ultraschall, wie das Herz ihres Kindes schlägt. Es geht ihm gut.
Während den nächsten Wochen fühlt sie sich zunehmend unwohl. Sie hat starke Kopfschmerzen, klagt über Übelkeit. Bei einem weiteren Kontrolltermin finden die Ärzte keine Ursache für ihre Beschwerden. In den nächsten Tagen nehmen die Kopfschmerzen weiter zu. Eines Morgens sind sie so stark, dass die Mutter nicht mehr aufstehen kann. Sie schickt Rufat zur Pflegefachfrau. Doch diese hat keine Zeit, um die Mutter zu untersuchen, und gibt ihm ein Schmerzmittel mit. Die nächste Untersuchung steht erst in knapp drei Wochen an. Aufgrund der zunehmenden Schmerzen bittet sie die Gesundheitsverantwortliche um einen früheren Arzttermin. Diese teilt ihr mit, dass das leider nicht möglich sei. So schildert es die Mutter.
Am 21. April, als die Ärztin bei der nächsten Kontrolle im Spital das Ultraschallgerät auf dem Bauch von Ulkar Tahmazov platziert, erkennt sie keinen Herzschlag mehr. Das Baby ist tot, gemäss dem ärztlichen Untersuchungsbericht war es bereits mehrere Wochen zuvor gestorben. Eine Ursache finden die ÄrztInnen nicht.
Unterstützung erhalten die Eltern vom SEM bis zuletzt keine: Sie wollen das tot geborene Kind beerdigen und bitten um Hilfe, da ihnen dafür das Geld fehlt. Die Leiterin des Zentrums teilt ihnen schriftlich mit, das SEM übernehme keine Kosten für die Beerdigung. Die Familie könne entscheiden, «ob der Fötus eingeäschert oder bis zur Ausreise der Eltern eingefroren werden soll». Die Familie ist muslimischen Glaubens, eine Feuerbestattung ist im Islam verboten. Nach zwei Wochen verzweifelter Suche findet sie schliesslich einen muslimischen Verein, der die Kosten für die Bestattung übernimmt.
Ganz untätig blieb das SEM allerdings nicht. Es prüfte das Asylgesuch der Familie innerhalb von wenigen Wochen – und lehnte es im April ab. Der zuständige Sachbearbeiter kam zum Schluss, die Familie werde nicht verfolgt. Eine Feststellung, die auch von der Familie nicht bestritten wird. Die viel dringendere Frage lautet: Kann Mirsadig angesichts seiner Verfassung und der medizinischen Versorgung in Aserbaidschan in seine Heimat zurückgeschickt werden? Ja, urteilte der Sachbearbeiter: «Es deutet nichts darauf hin, dass sich der gesundheitliche Zustand bei einer Rückkehr massiv verschlechtern könnte.» Die Ausweisung sei zumutbar. Zu dieser Feststellung kam das SEM zwei Monate bevor Mirsadig erstmals in der Schweiz von einem Arzt untersucht worden war.
Der Rechtsvertreter der Familie hat beim Bundesverwaltungsgericht Beschwerde gegen den Entscheid erhoben. Das Gericht stützte diese und erklärte den Entscheid des SEM für ungültig: Das Staatssekretariat habe den «Sachverhalt unvollständig festgestellt» und damit «Bundesrecht verletzt». Das Gericht wies den Entscheid an das SEM zurück mit dem Auftrag, das Gesuch ordentlich zu prüfen. Seither sind drei Monate vergangen.
Im Juli überwies der Bund die Familie an den Kanton Solothurn, wo sie seither in einer kleinen Wohnung lebt. Nun warten die Eltern und die beiden Kinder auf einen Entscheid und hoffen, dass sie eine vorläufige Aufenthaltsbewilligung erhalten. Damit Mirsadig von nun an jene Hilfe erhält, die er braucht.