Barfuss sitzt Roland Fessler im Ledersessel und manövriert die «Eiger-Nordwand» durch die Nacht in Richtung Meer. Im Steuerhaus leuchten hell die Displays: Satellitennavigation, Radar, Infrarotkameras. Der Kapitän trägt Schnauz, kurze Hosen und eine goldumrandete Brille. Zehn Meter unter ihm liegen 137 Schiffscontainer – Schweizer Exportware, bestimmt für den globalen Markt.
Seit über 40 Jahren ist Roland Fessler als Flusskapitän unterwegs. Er kennt jede Untiefe, jede Brücke, jedes Dorf. Sich selber bezeichnet er als Angehörigen einer «aussterbenden Art». Auf dem Rhein herrscht akuter Fachkräftemangel, einige Reedereien besetzen ihre Schiffe bereits mit Besatzungsmitgliedern aus Südostasien. Fessler ist einer der letzten Schiffsführer aus der Schweiz. Eine Flussfahrt mit dem 61 Jahre alten Kapitän ist zugleich eine Reise in die Vergangenheit.
Das Schiff liegt tief im Wasser. 3000 Tonnen Gewicht gleiten flussabwärts, Frankreich auf der linken Seite, Deutschland auf der rechten. Sieben Stunden früher hat die «Eiger-Nordwand» den Basler Rheinhafen Richtung Antwerpen verlassen. Es herrscht Schichtbetrieb, ab Strassburg ist das Schiff ohne Unterbruch bis Belgien unterwegs. Während der grösste Teil der Besatzung schläft, geht Fessler im Steuerhaus nochmals die Ladeliste durch. Jeder der 137 Container ist mit Nummer, Inhalt und Bestimmungsort verzeichnet: SIDU4187 Künstliche Gelenke für Puerto Rico, DNLE39042 Hartbonbons mit Zucker für die USA, NIJF29071 Laserschneidanlagen für China, CNJO89187 Gebrauchtwagen für Nigeria. Weitere Container reisen nach Brasilien, Ghana, auf die Philippinen oder nach Kuba. Fünf Besatzungsmitglieder sind dafür zuständig, dass die kostbare Fracht pünktlich und sicher in Antwerpen ankommt. Dort wird sie weiterverschifft. Vor ihnen liegen 700 Kilometer, acht Schleusen, drei Nächte. Voraussichtliche Ankunftszeit: Montagmorgen, acht Uhr.
Die «Eiger-Nordwand», ein sogenannter Koppelverband, gehört zur holländischen Reederei Danser und ist eines von durchschnittlich 18 Containerschiffen, die jede Woche die Schweiz in Richtung Nordsee verlassen. Während die Transportmengen auf dem Rhein insgesamt stagnieren, nimmt die Zahl der Container stetig zu. Im vergangenen Jahr verliessen 119 000 Container die Basler Rheinhäfen auf dem Wasserweg in Richtung Meer – so viele wie nie zuvor. In den Häfen weltweit wurden im selben Zeitraum mehr als 700 Millionen Container umgeschlagen. Der Aufstieg der Containerschifffahrt begann in den 70er-Jahren, heute wäre der globale Handel ohne die Stahlriesen nicht mehr vorstellbar. Entlang der Handelsrouten entstehen laufend neue Terminals, bestehende werden ausgebaut. Auch in Basel ist ein drittes Hafenbecken in Planung. Gemessen an der Menge der transportierten Güter ist der Rhein zwischen Basel und Rotterdam heute die zweitgrösste Wasserstrasse der Welt. Rund 300 Millionen Tonnen Fracht werden jedes Jahr auf ihm befördert, nur der Mississippi übertrifft diese Menge.
Roland Fessler war 16 Jahre alt, als er sich für den Fluss entschied. Es war das Jahr 1974, und er stand kurz vor dem Schulabschluss. «Zu diesem Zeitpunkt hatten die Lehrer endgültig die Nase voll von mir.» Fessler brauchte eine Ausbildung, doch so richtig begeistern konnte er sich für wenig. Bis er in der Zeitung auf das Inserat einer Reederei stiess, die Nachwuchs suchte. «Wasser hatte mich bereits immer fasziniert», sagt Fessler. Mit dem Segen des Vaters bewarb er sich um eine Lehrstelle als Matrose, drei Monate später schiffte er in Basel ein.
Der Rhein war damals eine gemächliche Handelsroute für den europäischen Binnenmarkt. Container gab es noch keine, die Schiffe transportierten Kies und Kohle. «Damals war alles deutlich entspannter als heute», sagt Fessler. Die Kapitäne fuhren ihre Ladung durch Seitenkanäle in abgelegene Dörfer. Wurde es dunkel oder zog Nebel auf, fiel der Anker. In den grossen Häfen wartete die Besatzung zuweilen mehrere Wochen auf Nachschub. «Dann sass man beisammen oder machte eine Tour in der Stadt. Dabei ging schon mal eine Nacht vorbei.» Bier floss viel zu jener Zeit, unterwegs wie an Land. Im sogenannten Bermuda-Dreieck im Hafen von Rotterdam etwa, wo in den Bars trinkfreudige Damen warteten und so mancher Schiffer für die Nacht verschwand. Einige kehrten erst am nächsten Morgen zurück, erzählt Fessler, kurz vor Abfahrt und mit schwindligem Kopf.
Dieses Kapitel der Schifffahrt ist Geschichte. Für die Besatzung gilt heute während der Fahrt ein striktes Alkoholverbot, und seit dem Einzug des Containerverkehrs sind die Fahrpläne eng getaktet. Zeit für Landgänge gibt es kaum. Die Frachter sind Tag und Nacht unterwegs, Halt machen sie nur noch in den grossen Containerterminals, die meist weit ausserhalb der Städte liegen. «Ich bin froh, habe ich die alten Zeiten noch erlebt», sagt Fessler. Der Kapitän ist jeweils einen Monat an Bord, danach hat er einen Monat frei. Dieser Rhythmus bestimmt sein Leben und kostete ihn eine Ehe. Seine erste Frau sei der Meinung gewesen, er sei zu viel weg. Seit acht Jahren ist er wieder verheiratet. «Meine jetzige Frau freut sich, wenn ich heimkomme, und auch, wenn ich nach vier Wochen wieder verreise.»
Auf anfangs idyllische Wälder folgt Schwerindustrie. Hunderte Meter hoch ragen die rauchenden Kamine und Kühltürme in den Himmel. Stahlwerke, Kohle kraftwerke, stillgelegte Atomkraftwerke. Der Rhein befindet sich im Zentrum des westeuropäischen Energienetzes. An seinem Ufer liegen auch einige der grössten Chemiewerke der Welt. Aus dem einst wild mäandernden Strom entstand infolge der Industrialisierung ein mehrheitlich begradigtes Gewässer. Damit die Schifffahrt sicher ihre Ware transportieren kann und zum Schutz der angrenzenden Städte vor Hochwasser.
Um vier Uhr morgens, die «Eiger-Nordwand» hat gerade Mainz hinter sich gelassen, endet Fesslers dritte Schicht. Der rangtiefere Schiffsführer betritt das Steuerhaus, die beiden wechseln ein paar Worte. Dann steigt Fessler die Treppe hinter dem Führerhaus hinunter zur Schiffswohnung. Im hinteren Teil liegen die Schlafzimmer, für jedes Besatzungsmitglied ein eigenes. Es gibt eine Dusche, einen Aufenthaltsraum und ein Esszimmer. In der geräumigen Schiffsküche streicht sich der Kapitän mit derselben Bedächtigkeit ein Brot, wie er das Schiff durchs Wasser steuert. Fessler wirkt, als hätte ihn während all den Jahren die Ruhe des Rheins ergriffen. Vom aufmüpfigen Schüler von damals ist nicht mehr viel zu sehen. «Laut werde ich nur, wenn ich einem Matrosen etwas zum zwanzigsten Mal erklären muss», sagt Fessler. Oder wenn wieder mal ein Computer spinnt.
Am späten Morgen, 60 Stunden nach Abfahrt in Basel, erreicht die «Eiger-Nordwand» den Seehafen von Antwerpen. Kohleberge türmen sich am Rand der Hafenanlage, dahinter rauchen die Türme einer der grössten Ölraffinerien Europas. Der Frachter bahnt sich seinen Weg zur vorerst letzten Schleuse. Im salzigen Wasser liegen die Hochseeschiffe an den Ladedocks. Die grössten sind über 300 Meter lang und haben Platz für über 20 000 Container. Sie überragen die «Eiger-Nordwand» um ein Vielfaches, als diese neben einem Frachter unter brasilianischer Flagge am Dock festmacht.
Im vergangenen Jahr passierten zehn Millionen Container und 14 000 Seeschiffe den Hafen von Antwerpen. Der Flussfrachter, der in Basel den Kleinhüninger Hafen dominierte, wirkt auf dem Umschlagplatz des globalen Handels mit einem Mal verschwindend klein. Drei Tage wird Roland Fessler hier bleiben, seine Ladung löschen und 150 neue Container aufnehmen. Bevor die «Eiger-Nordwand» sich wieder Richtung Schweiz auf den Weg macht.