Rachid Mourad ist in Algerien geboren. Sein richtiger Name soll auf Anraten seines Anwalts ungenannt bleiben. Wer sich mit Mourad verabredet, trifft auf einen freundlichen Mann, der mit seinem Schicksal hadert. Er sitzt mit abgewetzter Lederjacke und dunklem Kapuzenpullover in einem Basler Café. Mourad spricht gut deutsch, liest viel, in seiner Freizeit geht er gern schwimmen. «Ich habe mein ganzes Leben versucht, aufrichtig zu leben.» Am liebsten wäre ihm, seine Nationalität bliebe ungenannt, damit ihn niemand in die Schublade des kriminellen Algeriers steckt. Neben ihm auf dem Tisch liegt sein Smartphone, der Bildschirm in hundert kleine Stücke zersprungen.
2011 hatte Rachid Mourad in Algerien eine Schweizerin geheiratet und war ihr wenige Monate später nach Basel gefolgt. Die Hälfte der Zeit seither hat er hinter Gittern verbracht. Drei Jahre Gefängnis – das lässt schwerwiegende Taten vermuten. Doch schwere Verbrechen wie Körperverletzung oder Raub hat Mourad keine begangen. Sein grösstes Vergehen besteht im Verbrennen seines T-Shirts auf der Toilette einer Gefängniszelle.
Rachid Mourad ist in das Café gekommen, um von seiner Zeit hinter Gittern zu erzählen. Von den «unmenschlichen» Haftbedingungen, seiner «xenophoben» Staatsanwältin und dem «gleichgültigen» Pflichtverteidiger. Wenn er darüber spricht, wird er laut. «Die haben mich kaputt gemacht, verstehen Sie das?!» Mourad sieht sich als Opfer des Systems.
Unzählige Beamte haben sich in den vergangenen Jahren mit Rachid Mourad beschäftigt. Justizbehörden, Migrationsämter, Richter. Mehrere Rechtsberater und Anwälte haben sich für ihn eingesetzt, Freiwillige ihn im Gefängnis besucht. Sein Fall füllt einen ganzen Bundesordner. Und er wirft Fragen auf: Kann es sein, dass die Schweizer Justitia nicht ganz blind ist? Dass sie einen unangepassten Migranten nicht gleich behandelt wie einen Eingesessenen? Hat die Justiz ein Rassismusproblem?
Rachid Mourad ist kein Heiliger. 2007 reiste er erstmals in die Schweiz ein. Seither hat er wiederholt gegen das Gesetz verstossen und wurde dafür bereits früher mehrmals verurteilt. Wegen rechtswidrigen Aufenthalts, falscher Anschuldigung, Hausfriedensbruchs und Sachbeschädigung. Er hat unter anderem in einer Asylunterkunft alkoholisiert ein Sofa aus einem Fenster geworfen. Ausserdem hat er in einer Unterkunft übernachtet, in der er nicht registriert war. Und er hat einen anderen Asylsuchenden fälschlich beschuldigt, ihn angegriffen zu haben.
Mourads Leben ist bereits vor vielen Jahren aus den Fugen geraten. Nach einem Streit mit einem Vorgesetzten verlor er seine Stelle als Polizist bei einer algerischen Sondereinheit. Er musste die Kaserne verlassen, die längst sein Zuhause geworden war. Weil er sich als ehemaliger Polizist in Algerien nicht mehr sicher fühlte, wie er sagt, machte er sich auf den Weg nach Europa.
Die Akten über Mourad erzählen eine Geschichte, die mit all ihren Wendungen den Rahmen von ein paar Magazinseiten sprengen würde. Sie zeichnen das Bild eines Mannes, der aneckt, bisweilen die Fassung verliert. Der auf der Suche nach seinem Glück in den vergangenen zehn Jahren vier Mal in die Schweiz einreiste und ebenso viele Male wieder des Landes verwiesen wurde. Und schliesslich in Algerien eine frühere Bekannte aus der Schweiz heiratete. Das war im Herbst 2011.
Wenige Monate nach der Heirat folgt Rachid Mourad seiner Frau in die Schweiz. Das Leben zu zweit beginnt verheissungsvoll. Das Paar bezieht eine gemeinsame Wohnung in der Stadt Basel, kurz darauf findet Mourad eine Anstellung als Zeitungsausträger. Doch die Ehe wird bald kompliziert. Ein Sohn aus einer früheren Ehe seiner Frau taucht auf, von dem Mourad nichts wusste. Er fühlt sich belogen, sie sich von ihrem Ehemann eingeengt. So geht es aus den Akten hervor. Nach knapp zwei Jahren endet die Ehe im Streit. Seine Frau meldet die Trennung dem Migrationsamt, woraufhin Mourad sein Aufenthaltsrecht verliert.
Die Behörden fordern ihn auf, die Schweiz zu verlassen. Doch zurück nach Algerien will Mourad um keinen Preis. «Für mein Leben in der Schweiz habe ich alles zurückgelassen. In Algerien hat nichts und niemand mehr auf mich gewartet.» Er befürchtet, wieder auf der Strasse zu landen.
Mourad bleibt in der Schweiz, die Migrationsbehörden schreiben ihn wegen illegalen Aufenthaltes zur Festnahme aus. Eines Morgens im Herbst 2015 verhaftet ihn die Polizei in der Basler Notschlafstelle. Die Beamten bringen ihn ins Untersuchungsgefängnis, am nächsten Tag ins Ausschaffungsgefängnis Bässlergut. Ein von hohen Mauern und Stacheldraht umgebener Betonbau am Stadtrand von Basel, keine hundert Meter von der Landesgrenze entfernt. Gegen seinen Willen können die Behörden Mourad nicht in seine Heimat zurückbringen, für solche Ausschaffungen besteht zwischen der Schweiz und Algerien kein Abkommen.
Das Leben im Gefängnis setzt Mourad zu. Er hat kaum Möglichkeiten, sich zu beschäftigen, von fünf Uhr am Nachmittag bis zum nächsten Morgen schliessen ihn die Wächter in der Zelle ein. Wenige Monate nach seiner Verhaftung erkrankt er an einer Depression. Er sagt, er leide unter der Trennung von seiner Frau. Droht mit Selbstmord und verweigert das Essen. Die Aufseher verlegen ihn zur Überwachung für mehrere Tage in eine Sicherheitszelle. Eine kleine Zelle ohne Fenster, die Gegenstände sind alle im Boden verschraubt.
Der Gefangene darf dort keine eigenen Kleider tragen und wird pausenlos per Video überwacht.
Viermal wird die Haft von Mourad verlängert. Er weiss: Das Migrationsamt kann einen wie ihn maximal 18 Monate in Ausschaffungshaft behalten. «Danach lassen sie mich wieder frei», denkt Mourad. Doch die Behörden haben einen anderen Plan.
Während Mourad auf seine Freilassung wartet, bereitet die Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Landschaft ein Strafverfahren gegen ihn vor. Die Anklage liest sich drastisch: Hausfriedensbruch, Brandstiftung, Sachbeschädigung, Nötigung, Missbrauch einer Fernmeldeanlage, Ungehorsam gegen amtliche Verfügungen, mehrfache Widerhandlung gegen das Ausländergesetz. Die Anklägerin fordert drei Jahre Haft. Was folgt, bezeichnet Mourad als «abgekartetes Spiel».
Eines Tages im Juni 2016 kurz nach Mittag führt ein Aufseher Mourad in einen fensterlosen Sitzungsraum im Gefängnis. Mourad weiss nicht, wer auf ihn wartet. Am in den Boden verschraubten Tisch sitzt die Staatsanwältin, die ihn vernehmen will. Der Pflichtverteidiger von Mourad bleibt der Vernehmung fern, ohne dass er seinen Mandanten im Voraus darüber informiert hätte. «Ihr Verteidiger kann heute nicht anwesend sein», teilt die Staatsanwältin Mourad mit, das geht aus dem Einvernahmeprotokoll hervor.
Mourad protestiert, beharrt darauf, seinen Anwalt dabeizuhaben. Er habe das Recht zu schweigen, sagt die Staatsanwältin. Nach der dritten Frage beginnt Mourad zu antworten.
Vier Monate später schliesst die Staatsanwältin die Untersuchung ab. Im November überführen die Behörden Mourad vom Ausschaffungsgefängnis Bässlergut ins Untersuchungsgefängnis Muttenz im Kanton Baselland. Neue Zelle, neues Bett, neuer Ort. Seinen Pflichtverteidiger, so Mourad, habe er während der gesamten Zeit nur ein einziges Mal gesehen. Den Protokollen ist zu entnehmen, dass der Verteidiger bei allen Einvernahmen durch die Staatsanwaltschaft fehlte. Auch in den umfassenden Akten findet sich vom Pflichtverteidiger kein einziges Dokument. Mourad fühlt sich ausgeliefert.
Anfang Januar soll seine Gerichtsverhandlung stattfinden. Wenige Wochen vor dem Prozesstag schneidet sich Mourad in Untersuchungshaft mit einer Rasierklinge in den Unterarm. Einem Psychiater sagt er, er wolle nicht weiterleben.
Am 5. Januar 2017, dem Tag der Gerichtsverhandlung, erscheint Rachid Mourad geschwächt und psychisch angeschlagen vor dem Strafgericht Basel-Landschaft. Bis wenige Tage vor dem Prozesstag befand er sich nach eigenen Angaben im Hungerstreik. Das Gericht schenkt dem Zustand des Angeklagten wenig Beachtung und spricht ihn in fünf Punkten schuldig. Wegen Missbrauchs einer Fernmeldeanlage: Mourad hatte seine Ex-Partnerin mit Hunderten von SMS und Anrufen belästigt und sich damit über ein Annäherungsverbot hinweggesetzt. Wegen mehrfachen Hausfriedenbruchs: Er hatte sechs Jahre zuvor erneut in einer Asylunterkunft übernachtet, in welcher er nicht registriert war. Wegen Widerhandlung gegen das Ausländergesetz: Er hatte sich wiederholt ohne Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz aufgehalten. Wegen Brandstiftung: Er hatte bei einem früheren Aufenthalt in der Schweiz auf einer geschlossenen Gefängnistoilette sein T-Shirt verbrannt. Er habe damit gegen die schlechte Behandlung durch die Aufseher protestiert, sagt Mourad. Ausser ihm selber kam dabei niemand zu Schaden. Am Ende des Prozesstages verurteilt das Gericht Rachid Mourad zu einer Haftstrafe von zwei Jahren. Unbedingt.
Ein krimineller Nordafrikaner, der das System ausnutzt, seine Frau belästigt, keinen Respekt zeigt vor nichts und niemandem? Die Verurteilung von Rachid Mourad bedient eingängige Stereotypen. Zwei Begriffe fallen in der Recherche zu diesem Fall immer wieder: Rassismus und Diskriminierung.
Rachid Mourad selber beklagt sich darüber. Aber auch die mit dem Fall vertrauten Juristen äussern den Verdacht, dass Mourad aufgrund seiner Herkunft schlecht verteidigt und zu einer überharten Strafe verurteilt wurde.
Mehrere Monate nach dem Urteil sucht Rachid Mourad Hilfe bei Menschenrechtsorganisationen. David Mühlemann von der Beratungsstelle humanrights.ch wird auf den Fall aufmerksam. «Aus meiner Sicht ist dieses Strafmass unverhältnismässig», sagt er. Das brennende T-Shirt, so Mühlemann, sei klar erkennbar gewesen als Protest in einer Ausnahmesituation. «Alles andere waren Bagatelldelikte, die in diesem Ausmass in der Regel mit Busse bestraft werden.» Selbst bei Brandstiftung urteilt die Justiz oft milde. Zum Vergleich: Im selben Jahr stand im Kanton Schwyz ein Mann aus Österreich vor Gericht, der in einer Gefängniszelle eine Matratze samt Bettinhalt angezündet hatte. Das Gericht verurteilte ihn in zweiter Instanz zu gemeinnütziger Arbeit.
Nicht nur die Höhe des Urteils kritisiert Jurist Mühlemann. Er stellt die Rechtmässigkeit des Verfahrens grundsätzlich infrage. «Ich bezweifle, ob die Gerichtsverhandlung angesichts von Mourads geistiger Verfassung überhaupt zulässig war.» Auch die Rolle des Pflichtverteidigers sei äusserst fragwürdig: «Indem dieser ohne Absprache mit seinem Mandanten den Einvernahmen fern blieb, hat er möglicherweise gegen seine Anwaltspflichten verstossen.» Der Anwaltsverband Baselland will sich zum Fall nicht äussern. Der renommierte Zürcher Anwaltsverband hingegen stützt die Einschätzung. Zudem sei es fraglich, ob die Einvernahmen in Abwesenheit des Pflichtverteidigers überhaupt hätten durchgeführt werden dürfen. «Dieser Fall zeigt exemplarisch», so Mühlemann, «wie schlecht sich Personen mit ausländischem Hintergrund gegen das Justizsystem wehren können.»
Über Rassismus im Schweizer Justizsystem wird kaum öffentlich gesprochen. Dabei zeigte vor fünf Jahren eine Studie der Universität St. Gallen überraschend deutlich, welche Rolle sogenannt «nicht legitime Einflussfaktoren» in der Justiz spielen. Rund 180 Staatsanwälte beteiligten sich an der Studie. Bis zu 37 Prozent von ihnen gaben an, dass rechtlich nicht legitime Faktoren – wie etwa Nationalität oder Geschlecht – ihre eigenen Entscheidungen und auch das Strafmass beeinflussen. Gar jeder zweite der Befragten vermutete, Berufskolleginnen und -kollegen liessen sich durch die Nationalität der Angeklagten beeinflussen.
Der Jurist Tarek Naguib forscht an der Universität Fribourg zu Diskriminierung im Recht. Er sagt: «In der Schweizer Justiz fehlt es am Bewusstsein für das Problem.» Sei von Rassismus die Rede, dann sei meistens die bewusste Abwertung von Menschen gemeint. Dabei gebe es viele unreflektierte Mechanismen, die rassistische Handlungen erzeugten – etwa wenn Richter der Aussage eines Polizisten eher glauben als einem Schwarzen.
Naguib sieht die Universitäten und Behörden in der Pflicht, es brauche mehr Forschung und Weiterbildung zum Thema. Und: «Die Justiz spiegelt lediglich, wie unsere Gesellschaft in der Schweiz insgesamt mit Rassismus umgeht.»
Von «struktureller Diskriminierung» im Schweizer Rechtssystem spricht auch der Zürcher Rechtsanwalt Stephan Bernard, der sich in den vergangenen Jahren in mehreren Fachartikeln mit dem Thema Diskriminierung in der Justiz beschäftigt hat. «Diese wirkt subtil, was sie umso heimtückischer macht.» Konkret beobachtet Bernard eine zunehmende Verschärfung in der Rechtsprechung. Unter wachsendem politischem Druck würden Richter immer härtere Urteile fällen. Zudem fehle dem Gerichtspersonal häufig das Verständnis für andere soziale Realitäten. Dabei sei Empathie eine Voraussetzung für eine möglichst gerechte Justiz. Besonders davon betroffen: ökonomisch Unterprivilegierte, Bildungsferne und Migranten.
Wenig Verständnis für das Thema zeigen die Behörden. Bei der Staatsanwaltschaft Zürich heisst es auf die Frage, ob es ausreichend Sensibilität für strukturellen Rassismus gebe: «Wir erkennen kein Problem und erhalten keine negativen Rückmeldungen, die darauf hinweisen, dass da eine Problematik besteht.» Dies trotz aktuellem Integrationsprogramm des Kantons Zürich, in welchem eine Weiterbildung der Justizdirektion zum Thema Diskriminierungsschutz vorgesehen ist.
Und angesprochen auf den Fall Mourad, weist das Strafgericht Basel-Landschaft die Kritik zurück. Das Urteil sei «differenziert» und «wohlbegründet».
Rachid Mourad macht sich nach dem Urteil keine Hoffnungen mehr auf einen besseren Ausgang, wie er sagt. Seinem Pflichtverteidiger teilt er in einem Brief mit, dass er das Urteil nicht weiterziehen wolle. «Das Einzige, was ich möchte, ist so schnell wie möglich in ein grösseres Gefängnis wechseln», schreibt er auf Französisch. Der Pflichtverteidiger zieht den Rekurs umgehend zurück, kurz darauf verlegen die Behörden Rachid Mourad tatsächlich. Doch anstatt in eine Justizvollzugsanstalt, die für lange Aufenthalte geeignet ist, kommt er ins Bezirksgefängnis Arlesheim, ein vierzigjähriges Gebäude, das der Kanton seit Langem ersetzen will.
Die veraltete Haftanstalt ist für Kurzstrafen bis sechs Monate und Untersuchungshaft vorgesehen, so steht es in den Bestimmungen des Kantons. Doch der Bau erfüllt selbst die Anforderungen für kurze Haftstrafen nicht mehr, wie der Kanton bereits mehrfach selber bemängelt hat. Die Zellen sind zu klein, es fehlt an Tageslicht, Aufenthaltsräumen und ausreichend frischer Luft. Die meisten Insassen bleiben hier ein paar Wochen. Rachid Mourad sitzt über ein Jahr in Arlesheim. Sein Zustand verschlechtert sich weiter. Psychosomatische Schmerzen, Atemprobleme und Panikattacken stellen sich ein. Wenige Monate nach dem Gerichtsurteil beginnt Mourad, Briefe an die Justizvollzugsbehörden zu schreiben:
«Meine Damen und Herren. Meine Wünsche … Arbeiten. Ich Bitte euch. Ich Möchte Arbeiten. Nicht Ganzen Tag Hocken Im Zimmer. Bitte Helfen Sie mich einfach Arbeit Zu Finden. Besten Danken Für Ihre Helfen.»
Ein paar Wochen später:
«Sehr geehrte Damen und Herren. Ich Bitte euch Ich Habe eine Schwerik Krankheit Mit Apmen Wege Dem Ich Bitte euch Vegsel GEfängnis Mit Fenster mit Natural Luft ZU Haben. mit Freundlichen Grussen»
Der Bund und der Europarat formulieren klare Anforderungen an die Haftbedingungen im Strafvollzug. Das Gefängnis muss zusammen mit den Gefangenen einen individuellen Vollzugsplan erstellen. Der Gefangene muss sich in Haft weiterbilden können und einer angemessenen Arbeit nachgehen können. Im Fall von Rachid Mourad setzt sich der Kanton Baselland über alle diese Vorschriften hinweg. Mourad hatte keine Möglichkeit zur Weiterbildung, einen Vollzugsplan sah er nie. Die einzige Beschäftigung, der er nach wiederholtem Bitten nachgehen darf, ist das Reinigen der Gefängniskorridore.
Dann macht Mourad dem Kanton ein Angebot. Die Behörden werden es schliesslich gegen ihn verwenden. In einem Brief an das Migrationsamt erklärt er sich nun doch bereit, nach Algerien auszureisen. Unter einer Voraussetzung: Die Behörden sollen ihm einen Lieferwagen finanzieren, in dem er wohnen und mit dem er sich seinen Lebensunterhalt verdienen kann. Die Behörden treten nicht darauf ein. Seine weiteren Gesuche um Verlegung bleiben ohne Erfolg. Auf Rat einer Bekannten sucht er Anfang 2018, ein Jahr nach seiner Verurteilung, Hilfe bei Amnesty International und der Beratungsstelle humanrights.ch.
Von nun an kümmern sich Juristen um den Fall. Zuerst David Mühlemann von humanrights.ch, der einige Wochen später eine Anwaltskanzlei mit dem Fall beauftragt. Während mehrerer Monate verlangen die Juristen in einer Reihe von Anträgen die sofortige Verlegung von Mourad in eine geeignete Strafvollzugsanstalt. Sie werfen dem Kanton vor, er verletzte «grundund menschenrechtliche Schutzpflichten». In einem Brief wendet sich selbst ein leitender Arzt der Psychiatrie Baselland an die Justizvollzugsbehörden. Er attestiert Mourad eine schwere depressive Erkrankung und bittet ebenfalls um umgehende Verlegung.
Doch die Behörden weisen sämtliche Anträge ab. Mourad habe mit «fehlender Kooperationsbereitschaft» eine Verlegung verhindert. Die Logik der Behörde lautet wie folgt: Rachid Mourad habe zuerst einer Rückreise nach Algerien zugestimmt, seine Aussage aber später widerrufen. In der Zwischenzeit habe der Kanton jedoch die Anmeldung bei den Strafvollzugsanstalten bereits annulliert, womit Mourad aus den Wartelisten gefallen sei. Aufgrund der langen Wartefristen sei eine neue Anmeldung danach aussichtslos gewesen. «Rachid Mourad ist für seine Lage leider grösstenteils selber verantwortlich», schreibt die Justizvollzugsbehörde auf Anfrage.
Schriftliche Belege für ihre Aussagen können die Behörden jedoch auch auf Nachfrage keine liefern. Rachid Mourad gibt an, nie einer Rückreise abschliessend zugestimmt zu haben. Auch die Direktionen der zuständigen Strafvollzugsanstalten widersprechen der Darstellung der Behörden. Auf Anfrage teilt die Strafvollzugsanstalt Lenzburg mit, dass die Wartezeiten für die entsprechende Abteilung unter Umständen «allenfalls einige wenige Wochen» betragen. Es sei deshalb äusserst unwahrscheinlich, dass ein Gefangener während mehrerer Monate auf eine Platzierung warten müsse. Ähnlich klingt es auf Anfrage auch bei der Strafvollzugsanstalt Bostadel.
«Die Argumente der Vollzugsbehörde wirken vorgeschoben», sagt Jurist David Mühlemann von humanrights.ch. «Der Kanton hätte unseren Mandanten so rasch wie möglich in eine Strafvollzugsanstalt verlegen müssen. Nach dem Vollzug von zwei Dritteln der Strafe hätte Mourad zudem entlassen werden müssen. So schreibt es das Gesetz vor.» Doch auch den Antrag auf Zweidrittel-Entlassung lehnt die Behörde ab. Weil Mourad ohne gültige Aufenthaltsbewilligung bei Freilassung in der Schweiz sofort gegen das Ausländergesetz verstosse, müsse er so lange in Haft bleiben, bis er freiwillig einer Rückreise nach Algerien zustimme oder die volle Haftzeit abgesessen habe. Mühlemann bezeichnet die Argumentation als diskriminierend. «Dass eine Person einzig aufgrund des fehlenden Aufenthaltstitels länger in Haft bleiben muss, verstösst gegen das verfassungsmässige Diskriminierungsverbot.»
Ein fragwürdiges Verfahren, eine auffällig hohe Haftstrafe, problematische Haftbedingungen: Ob und wie oft im Fall von Rachid Mourad die Behörden gegen Recht verstossen haben, wird vermutlich nie abschliessend geklärt werden. Der Aufwand, um den Fall erneut aufzurollen, wäre sehr gross, so Jurist Mühlemann. «Das übersteigt unsere Ressourcen.»
Rachid Mourad verbüsst seine Strafe bis zum Schluss. Als er an jenem sonnigen Tag im Oktober 2017 das Gefängnis von Muttenz verlässt, ruft er: «Liberté, liberté», kauft sich am Bahnhof eine Packung Zigaretten und fährt mit dem Zug nach Basel. So erzählt es Mourad. Die ersten drei Tage schläft er in einem Park unter einem Baum. Bis er eine ältere Frau antrifft, die er von seiner früheren Arbeit als Zeitungsausträger kennt. Bei ihr lebt er seither, «ein Glücksfall», sagt Mourad. Ein Happy End ist es nicht.
Von einem früheren Unfall trägt er eine Metallplatte im Oberschenkel, die sich während seiner Gefangenschaft begonnen hat abzulösen, wie ein Arztbericht bestätigt. Weshalb sich die Vollzugsbehörden nicht darum gekümmert haben, ist offen. Mourads Bein schmerzt, die Platte müsste raus. Doch ohne Aufenthaltsbewilligung und Versicherung hat er kaum Aussicht auf eine Behandlung. Mit Schwarzarbeit verdient er etwas Geld, gerade genug zum Überleben. Wie es mit ihm weitergeht, darüber denkt er so wenig wie möglich nach.
Wenn Bekannte auf der Strasse Mourad fragen, wo er die vergangenen drei Jahre war, antwortet er: im Ausland. «Wenn ich sage, im Gefängnis, denken die Menschen, ich sei ein Verbrecher.»