In der Gegend um Rothrist, wo Hans Brauns Bauernhof steht, ist Milchland. Einige der größten und produktivsten Betriebe des Landes stehen hier. Riesige Ställe mit bis zu hundert Kühen, davor turmhohe Futtersilos und modernste Traktoren. Es sind die Höfe von Bauern, die immer mehr Geld in ihre Betriebe investieren und am Ende, wegen der fallenden Preiseimmer weniger verdienen. Je nach Region erhält ein Bauer noch knapp 50 Rappen für einen Liter Milch. Das sind 30 Rappen weniger als noch vor drei Jahren.
Auch Hans Braun ist Milchbauer. Doch ein anderer als die meisten seiner Nachbarn. Er sagt: „Für mich ist das völlig gestört, in welche Richtung sich die Milchproduktion entwickelt.“ Auch er führte einmal einen Betrieb mit hochgezüchteten Kühen, die ihm maximale Erträge bringen sollten. Bis zu jenem Sommer vor zwanzig Jahren, als ihm das Geld ausging.
Die Bauern in der Schweiz klagen über fallende Lebensmittelpreise, über Direktzahlungen und die Konkurrenz aus dem Ausland. Sie tun das an Großdemonstrationen, im Parlament oder, wie Ende Mai, auf dem Berner Hausberg Gurten, wo sich die führenden Schweizer Landwirtschaftsvertreter zum Milchgipfel trafen.
Kaum je ein Thema sind allerdings die explodierenden Kosten. Dabei tragen sie sehr zur Krise der Landwirte bei. Das Schweigen hat seine Gründe. Die Profiteure dieser Mehrausgaben und die Bauernverbände sind eng miteinander verbandelt. Aber dazu später.
Von den Landwirtschaftsmillionen profitieren die Traktor-Importeure
Zuerst die Zahlen. Um einen Hektar Land zu bewirtschaften, gab ein Schweizer Bauer vor fünfzehn Jahren durchschnittlich 7100 Franken pro Jahr aus. 2014 waren es 9.800 Franken, also fast 40 Prozent mehr. Am stärksten gestiegen sind die Kosten für Gebäude, Kraftfutter, Maschinen und Arbeiten, die von externen Unternehmen verrichtet werden. Der Ertrag pro Hektar ist im selben Zeitraum gesunken.
So war es auch bei Hans Braun und seiner Frau. Mit dem Neubau eines Stalls hatten sie sich 1995 stark verschuldet. Verzweifelt saßen sie in ihrem kleinen Büro und brüteten über den Buchhaltungen der vergangenen Jahre. Bis sie irgendwann merkten: Auch wenn sie noch mehr Milch aus den Eutern ihrer Kühen melkten, es wird nicht reichen, die Futtermittel, die neuen Maschinen zu bezahlen und die Hypothek für den neuen Stall abzustottern. Wollen sie der Schuldenfalle entkommen, gibt es nur einen Weg: Sie müssen ihre Kosten senken – und zwar radikal.
Während die Bauern um ihre Existenz bangen, floriert die vorgelagerte Branche. Zum Beispiel der Branchenriese Fenaco.
Es ist Ende Mai. Kurz nach Mittag tritt Martin Keller in Bern vor die Medien. Der Fenaco-Chef beginnt seine Präsentation mit einer Untertreibung. „Das Jahr 2015“, sagt er, „ist gut und erfreulich.“ Als bäuerliche Genossenschaft gegründet, profitiert die Fenaco AG mit ihren Tochterfirmen heute entlang der gesamten landwirtschaftlichen Wertschöpfungskette. Sie liefert den Bauern alles, was sie auf ihrem Hof brauchen. Vom Saatgut über das Futter und den Dünger bis hin zu den teuren Landmaschinen. Der Milliardenkonzern, längst als gewinnorientierte Aktiengesellschaft organisiert, beschreibt sich gerne als „Selbsthilfeorganisation der Bauern“. Trotzdem steht er immer wieder in Verdacht, seine Marktmacht zuungunsten der Landwirte auszunutzen. Im vergangenen Jahr konnte das Unternehmen bei leicht rückläufigem Umsatz den Gewinn um 65 Prozent auf 96 Millionen Franken steigern. Das ist, Martin Keller ließ es unerwähnt: Unternehmensrekord.
Groß war die Freude über das hervorragende Geschäftsjahr auch in Schaffhausen bei der GVS Gruppe. Einem ebenso weitverzweigten Großunternehmen, das mit den Bauern viel Geld verdient. Wie die Fenaco war die GVS einst eine Genossenschaft. Heute ist sie ein Riese im Geschäft mit den Landmaschinen. Sie importiert und vertreibt unter anderem die Marken Fendt, Valtra und Massey Ferguson, die ihre Traktoren im nahen Oberallgäu, im finnischen Suolahti oder im fernen Georgia produzieren. Im vergangenen Jahr erzielte die GVS Gruppe mit knapp 220 Millionen Franken einen Rekordumsatz und steigerte ihren Gewinn um 20 Prozent auf knapp 40 Millionen Franken.
Weshalb geben die Schweizer Bauern immer mehr Geld aus, wenn doch ihr Einkommen stagniert? Wieso kauften sie im vergangenen Jahr 2500 neue Traktoren – das sind 21 Prozent mehr als im Jahr zuvor, – wenn gleichzeitig die Preise für ihre Produkte in den Keller rasseln?
Andreas Bosshard beschäftigt sich seit Jahren mit diesem Widerspruch. Der promovierte Agronom ist Geschäftsleiter der ökologischen Denkfabrik Vision Landwirtschaft und gilt als einer der schärfsten Kritiker der heimischen Landwirtschaft. Er sagt klipp und klar: „Die wichtigste Ursache für die äußerst geringe Wertschöpfung der Schweizer Landwirte sind nicht die tiefen Preise, sondern die hohen Kosten.“ Die Bauernverbände, die Agrar-Presse und die Landwirtschaftsschulen würden den Bauern weismachen: Wer stetig wachse und seinen Betrieb ausbaue, erwirtschafte automatisch ein höheres Einkommen. Ein Glaube, der viele Bauern in die Schuldenfalle treibe. Ermöglichen würden die übermäßigen Investitionen die Direktzahlungen des Bundes. Sie verleiteten die Bauern dazu, das Geld unüberlegt auszugeben. Besonders stört sich Bosshard an jenen Zahlungen, die nicht an Gegenleistungen gebunden sind. Zum Beispiel die 100 Franken, die ein Bauer pro Hektar und Jahr erhält, wenn er in einer hügligen Landschaft wirtschaftet. Oder die sogenannten Versorgungssicherheitsbeiträge: „Diese pauschalen Gelder sind Gift für eine wirtschaftlich orientierte Landwirtschaft.“
Die Missstände, die Bosshard anprangert, haben aus seiner Sicht etwas gemeinsam. Es profitiert immer: die vorgelagerte Branche. „Die Unternehmen tun alles dafür, dass die Direktzahlungen hoch bleiben und die Bauern weiterhin im großen Stil investieren“, sagt Bosshard. Um ihre Interessen durchzusetzen, unterwanderten sie die Politik und die Landwirtschaftsverbände.
Tatsächlich. Die Macht der Bauernlobby im Parlament ist legendär. Im Vorstand des Bauernverbands ist der langjährige Verwaltungspräsident der Fenaco AG ebenso vertreten wie der aktuelle Präsident der GVS Gruppe. Mit Guy Parmelin und Ueli Maurer sitzen selbst im Bundesrat zwei ehemalige Verwaltungsratsmitglieder der Fenaco. Zudem überweist das Unternehmen dem Bauernverband jedes Jahr 250.000 Franken, unter anderem für die Kommunikation. Seit den Wahlen im vergangenen Herbst scheint das Netz zwischen Bauernvertretern, Politikern und Industrie so eng geflochten wie kaum je zuvor.
Als Milchbauer Hans Braun vor zwanzig Jahren beschloss, sich unabhängiger zu machen, ahnte er nicht, wie grundlegend sich sein Betrieb verändern würde. Es fing an beim Speiseplan seiner Kühe. Zuerst aus Not, dann aus Überzeugung, kaufte er weniger Kraftfutter. Aus seiner ehemaligen auf Hochleistung getrimmten Herde hat Braun eine neue Rasse gezüchtet. Heute verbringen seine 40 Milchkühe den größten Teil des Jahres auf der Weide und werden von dem satt, was auf dem Feld wächst. Vor drei Jahren hat er seinen Tieren das letzte Mal Kraftfutter verfüttert.
Die Bauern sind halsstarrig. Sie glauben weiter an die Mär vom ewigen Wachstum
Inzwischen, sagt Braun, verdiene die vorgelagerte Branche kaum noch Geld mit seinem Betrieb. Und noch etwas anderes hat sich verändert. Etwas, wovor sich die allermeisten Bauern fürchten: Seine Kühe geben nur noch halb so viel Milch wie früher. Trotzdem sagt Braun, gehe es ihm heute deutlich besser. Weil seine Kosten markant stärker gesunken sind als die Einnahmen, hat sich sein Verdienst pro Liter Milch verdreifacht. Während er 1998 gerade noch 10 Franken pro Arbeitsstunde verdiente – wie der Großteil der Schweizer Milchproduzenten –, sind es heute über 30 Franken. Schweizweit ein Spitzenwert.
Noch gibt es in der Schweiz kaum Bauern wie Hans Braun. Wie erfolgversprechend sein Modell auch für andere Betriebe sein könnte, zeigte vor wenigen Jahren eine Studie von Agroscope, dem Kompetenzzentrum des Bundes für landwirtschaftliche Forschung. Drei Jahre lang verglichen die Forscher Aufwand und Ertrag einer klassischen Stallherde mit denen einer Vollweideherde, wie die von Bauer Braun. Das Resultat bestätigte seine Erfahrungen und widersprach fast sämtlichen Gesetzmäßigkeiten, die Bauernvertreter und Landwirtschaftsmedien ständig predigen. Obwohl die Weideherde deutlich weniger Milch produzierte, verdoppelte sich das Stundeneinkommen. Das Fazit der Forscher fiel eindeutig aus: „Um im zukünftigen Milchmarkt bestehen zu können, müssen Milchproduktionsbetriebe ihre Kosten senken und in allen Bereichen effizienter werden.“ Der geringere Erlös werde vor allem durch die niedrigeren Kosten mehr als kompensiert. Auf den Bauernhöfen kam diese Erkenntnis kaum an. Man machte lieber weiter wie bisher. Und auch die Bauern-Elite ist von einem Umdenken weit entfernt.
Das zeigt sich am Milchgipfel auf dem Gurten. Gerade einen halben Tag sitzen die Spitzenvertreter der Milchbranche zusammen und sinnieren darüber, was gegen den fallenden Milchpreis zu tun ist. Als sie nach dem Mittag vor die Medien treten, um ihr Manifest zu präsentieren, macht Jacques Bourgeois, Co-Präsident des Bauernverbands, als Erstes klar, in welche Richtungen es gehen soll. „Weil die Branche alleine keinen Ausweg finden kann, ist auch die Politik gefordert!“ Die zentrale Forderung lautet, etwas vereinfacht: mehr Geld vom Bund. Höhere Beiträge für die Nutztiere, die regelmäßigen Auslauf im Freien erhalten. Mehr Geld für Betriebe, die einheimischen Mais verfüttern. Und grundsätzlich mehr Geld für die Absatzförderung.
Auch Hans Braun hat den Milchgipfel verfolgt. „Ich hätte mir schon gewünscht, dass sie sich etwas Originelleres einfallen lassen“, sagt er. Braun ist der Meinung, die Produzenten müssten das Problem selber lösen. Also kleinere Milchmengen, weniger Ausgaben. Doch wie lange es dauert, bis ein Bauer seine alten Gewohnheiten überwindet, das weiß er selber. Aus eigener Erfahrung.
Seit Braun wieder mehr Zeit hat, unterrichtet er an einer Landwirtschaftsschule und versucht, den Bauern von morgen die Vorteile einer günstigeren Produktion aufzuzeigen. An seiner eigenen Geschichte zeigt er ihnen, wie neben seinem Einkommen auch die Milchqualität auf seinem Hof gestiegen sei, dass seine Tiere eine Lebenserwartung von elf Jahren hätten und nicht wie auf vielen klassischen Höfen schon nach vier Jahren zur Schlachtbank geführt werden müssten.
Allein, die fixe Idee von Hochleistungskühen und Milchmaximierung sitzt noch tief, auch an den Schulen. Spricht er mit Kollegen in der Nachbarschaft, die selber unter dem Milchpreis leiden, hört er oft, eine Umstellung sei nicht möglich, sie hätten zu wenig Land, das direkt an den Hof angrenze. Sie hätten die falsche Kuhrasse. Und überhaupt, der Schweiz würde die Milch ausgehen, wenn alle so produzieren würden wie er.
Für Hans Braun sind das Ausreden. „Bei dem Überschuss an Milch, den die Schweizer Bauern produzieren, gibt es noch sehr viel Platz für solche wie uns.“