Curaglia liegt in einer Gegend, wo die Menschen den Rückzug angetreten haben. Schulen schliessen, Arbeitsplätze verschwinden, die Einwohner ziehen talabwärts. Betrachtet man die Zahlen, sieht auch die Zukunft von Curaglia düster aus. Im Jahr 1960 lebten in der Gemeinde Medel, zu der Curaglia und die anderen Ortschaften im Tal gehören, noch rund 820 Menschen. Seither nahm die Bevölkerungszahl ab. Heute zählt die Gemeinde noch 386 Einwohnerinnen und Einwohner, davon gerade einmal rund ein Dutzend Kinder. In diesem Sommer stellte die erst vor Kurzem renovierte Primarschule den Betrieb ein. Manche Einheimische haben den Glauben daran verloren, dass ihre Kinder und Enkel hier oben eine Zukunft nden.
Doch es gibt auch Menschen, die den umgekehrten Weg gehen. Die aus dem Unterland und den Städten nach Curaglia kommen. Und bleiben. Sie teilen diese düstere Sichtweise nicht, sondern glauben an eine Zukunft. Der Aufbruch wird in Curaglia angetrieben von einer Schar Auswärtiger, wie man sie hier oben nennt. In den vergangenen Jahren haben sich mehr als ein Dutzend von ihnen im Val Medel niedergelassen, angezogen wie von einer unsichtbaren Hand. Sie kommen aus verschiedenen Gründen, aus Zürich, St. Gallen, dem Toggenburg oder Tirol. Was sie eint, ist die Sehnsucht nach einem naturnahen Leben in den Bergen. Angetrieben von der Hoffnung, hier oben eine Lebensgrundlage zu nden, haben die Auswärtigen in wenigen Jahren viel bewirkt. Sie haben Bauernhöfe übernommen, die keine Nachfolger mehr fanden. Eine Käserei eröffnet, wo die Milch der Geissen aus dem Tal verarbeitet wird. Das ehemalige Altersheim zu einem erfolgreichen Hotel umgebaut und den Dor aden vor der Schliessung gerettet, der neu mit einem Sortiment an lokalen Produkten Werbung macht. An der Hauptstrasse steht der ehemalige Stall, den der einheimische Architekt für eine junge Familie renoviert hat. Einige hundert Meter weiter das Bauernhaus, wo ein Paar aus der Ostschweiz eingezogen ist. Die Veränderungen in Curaglia sind allgegenwärtig. Und sie stossen manche Alteingesessene vor den Kopf.
Tabea Baumgartner steuert entspannt ihren etwas abgenutzten Kleinwagen um die engen Haarnadelkurven bergaufwärts. Die 28-jährige Aargauerin trägt die blonden Haare kurz und ungebändigt. Vor drei Jahren hatte sie ihr Geogra estudium in Zürich abgeschlossen und kam für ein Praktikum in die Region. «Ich wollte das Leben in den Bergen kennenlernen. Damals hätte ich nie gedacht, dass ich heute noch immer hier heroben bin», sagt sie. Baumgartner ist eine der umtriebigsten Figuren unter den Zugezogenen. Sie leitet einen Verein, der sich für eine nachhaltige Regionalentwicklung einsetzt, und besetzt seit diesem Sommer einen von drei Sitzen im Gemeindevorstand. Am Rand einer Kiesstrasse parkiert sie ihr Auto, hundert Meter weiter be ndet sich einer ihrer liebsten Orte im Tal. Vor dreissig Jahren hat hier ein Orkan den gesamten Wald zerstört, an dessen Stelle steht nun auf einer Lichtung inmitten der wild nachwachsenden Vegetation die Academia Vivian. Die Waldhütte, um deren Betrieb sich ebenfalls Baumgartner kümmert, dient als Begegnungsort, Waldschulzimmer und Kino in einem. Umgeben von blühenden Alpenrosen, niedrigen Tannen und Bergfarn. Die alpine Kulisse wird bestimmt von den breiten Gipfeln des Bündner Oberlandes: Piz Medel, Piz Pazzola, Piz Muraun.
«Ich bin hier, weil ich etwas bewirken möchte», sagt Baumgartner. Von weit her lärmt die Kettensäge eines Försters, dann bricht das Krachen einer Tanne durch die kurze Stille. In ihrem Kopf trägt die junge Frau eine lange Liste von Ideen mit sich herum, mit denen sie das Tal beleben möchte. Sie weiss, dass manche Einheimische ihre Ideen als naive Spinnereien abtun. Diese Naivität sieht Baumgartner als Chance und zugleich als Gefahr. «Wir müssen miteinander im Gespräch bleiben, damit der Graben zwischen den Alteingesessenen und den Neuen nicht zu gross wird.» In den vergangenen drei Jahren hat sie deshalb Sursilvan gelernt, einen Dialekt des Rätoromanischen, der hier gesprochen wird. Sie war bis zu ihrer Wahl Mitglied in der Dorffeuerwehr, im Sommer hütet sie Geissen auf einer nahen Alp. Baumgartner wünscht sich ein Tal, wo alte Traditionen und moderne Ideen zu etwas Neuem verschmelzen. «Häu g hört man, die Bergler hinken einen Schritt hinten nach. Aber oft denke ich, das Gegenteil ist der Fall. Wir sind den Städtern eigentlich voraus», sagt Baumgartner. Der nahe Bezug zur Natur, den Lebensmitteln und den Menschen, «ich kann mir kein zeitgemässeres Lebensmodell vorstellen». Dann packt sie die vollen Müllsäcke ins Auto und fährt zurück in Richtung Dorf.
Im Dorfzentrum, gleich neben der Haltestelle, wo einmal stündlich der Bus nach Disentis fährt, liegt das Gemeindehaus. Ein schlichtes Gebäude aus den 70er-Jahren. Im ersten Stock sitzt im schmucklosen Zimmer des Gemeindepräsidenten seit diesem Sommer Rico Tuor. Ein grossgewachsener und zunächst etwas zurückhaltender Mann, aufgewachsen im Nachbarort Disentis. In Zürich hatte er Geogra e studiert, bevor er für ein Entwicklungsprojekt nach Südostasien auswanderte. Nach drei Jahren kehrte er zurück in die Schweizer Berge. «Ich wollte hier in meiner Heimat die Zukunft mitgestalten», sagt der 40-Jährige. Die erste Gelegenheit bot sich Tuor mit dem damals neu geplanten Parc Adula. Der Bund wollte gemeinsam mit den Berggemeinden zwischen dem Vorderrheintal und dem Tessin den grössten Nationalpark der Schweiz schaffen. Tuor trat als Regionalentwickler dem Projektteam bei und ahnte nicht, wie viel Ablehnung ihm dafür schon bald entgegenschlagen sollte.
Der Parc Adula entzweite innerhalb von wenigen Jahren Dörfer und Familien. Er war ein Lehrstück dafür, wie gross hier heroben das Misstrauen gegen Veränderungen ist. Auf der einen Seite die Befürworter, die im Park eine einmalige Entwicklungschance für die Region sahen. Sie träumten von nachhaltigem Tourismus, Arbeitsplätzen und einer starken Marke für regionale Produkte. Auf der anderen Seite die Gegner, welche die Abstimmung zum Freiheitskampf der Bergler stilisierten. Sie schimpften am Stammtisch auf die Beamten in Bundesbern, die den Menschen vorschreiben wollten, wie sie zu leben hätten. Sie verteufelten die Umweltverbände als heimliche Drahtzieher und das Planungsteam als deren Handlanger. An Informationsabenden kam es zu wüsten Tiraden, an Dorfeingängen verkündeten handgezimmerte Schilder: «Keine fremden Vögte. No Parc.» Im Herbst 2016 schmetterte das Stimmvolk in den betroffenen Gemeinden den Nationalpark deutlich ab.
Zwei Jahre später ist Rico Tuor nach wie vor überzeugt, dass es den Wandel braucht. «Immer mehr Touristen suchen solche Orte wie hier. Wir müssen lernen, unsere Kultur in Wert zu setzen, ohne daraus Folklore zu machen», sagt Tuor. In Curaglia ndet er all das, was er für seine Vision sucht: kaum berührte Naturlandschaften, Traditionen, Menschen, die in der Not offen sind für Veränderungen. Sein Vorgänger als Gemeindepräsident, Peter Binz, verschaffte ihm vor einigen Jahren eine Teilzeitstelle als Wirtschaftsförderer. In dieser Rolle plante Tuor die Umnutzung des ehemaligen Altersheims zu einem Hotel. Weil sich kein Käufer fand, machte er sich selber auf die erfolgreiche Suche nach Investoren und gründete eine Aktiengesellschaft. Vor zwei Jahren eröffnete das Hotel Medelina unter der Leitung einer jungen Frau aus Zürich, auch der Koch stammt aus dem Unterland. Rico Tuor packt an, wo er gebraucht wird. So auch vor wenigen Monaten, als der bisherige Gemeindepräsident seinen Rücktritt ankündigte. Im Dorf fand sich niemand, der das Amt übernehmen wollte, es drohte die Fusion mit Disentis. Schliesslich stellte sich Tuor als Präsident zur Wahl. Gemeinsam mit Tabea Baumgartner und einem Einheimischen leitet er seit diesem Sommer die Gemeinde. Einen entscheidenden strukturellen Vorteil hat Curaglia gegenüber den Nachbargemeinden: Es fehlt nicht an Geld. Dank des Staudamms am oberen Talende beim Lukmanierpass verfügt die Gemeinde über ein stetiges Einkommen. Hinzu kommt finanzielle Unterstützung durch die Berghilfe für verschiedene Projekte im Tal.
Es ist Abend geworden, ein letzter Motorradfahrer donnert durch das Dorf in Richtung Lukmanier. Am Rand der Hauptstrasse steht das Hotel Vallatscha, neben dem Eingang im weiss gebügelten Hemd dessen Besitzer Peter Binz. Dass in Curaglia heute wieder zarte Hoffnung keimt, ist zu einem grossen Teil sein Verdienst. Binz war in einem früheren Leben Finanzchef in einem international tätigen Wirtschaftsprüfungsunternehmen und lebte in Zürich. Während eines Urlaubs in Curaglia erlag er der Verführung des Tals. Er kündete mit Ende 50 seine Stelle, kaufte das Hotel und zog mit seiner Frau hierher. Wenig später übernahm er als erster Unterländer das Amt des Gemeindepräsidenten, da bereits damals keine Einheimischen mehr für eine Kandidatur zur Verfügung standen. Für sein Hotel sucht er nun bereits seit einiger Zeit einen Käufer, damit er sich hier heroben zur Ruhe setzen kann.
An diesem Abend hat der ehemalige Gemeindepräsident seinen Nachfolger Rico Tuor zum Essen ins Hotel eingeladen, gemeinsam mit Livia Werder, der Gastgeberin im Hotel Medelina, und Brigitta Holz, Käserin aus dem Tirol und Leiterin der vor Kurzem eröffneten Dorfkäserei. Auf den Tellern dampft Hackbraten aus Junggeissen eisch aus dem Tal. Es geht an diesem Abend zu wie meistens, wenn Zugezogene beisammen sitzen: Sie diskutieren über die Zukunft des Dorfes, über Herausforderungen und Ideen. Neuen Wohnraum schaffen, die Fleischtrocknerei der Metzgerei vergrössern, eine Vermarktungsplattform für regionale Produkte aufbauen. «Was wir brauchen, ist eine gemeinsame Vision», sagt Rico Tuor.
Doch die Vision eines sanften Tourismus teilen nicht alle im Tal. Als die Gemeinde vor einigen Jahren ihre Bewohner nach Ideen fragte, kamen ganz andere Vorstellungen zur Sprache. Eine grosse Paint-Ball-Anlage, eine Rodelbahn, ein Skigebiet. Manche Alteingesessene verwerfen die Hände angesichts der neuen Käserei, deren Produkte viel zu teuer seien. Sie kritisieren das Hotel, das die beiden bestehenden konkurrenziere, und die zugezogenen Bauern, die alles anders machen würden als ihre hier aufgewachsenen Vorgänger. Es sind Stimmen, die kaum je an die Öffentlichkeit dringen. Die aber wie Schatten um die Häuser ziehen und zuweilen am Selbstvertrauen jener nagen, die hier an den Aufschwung glauben. Einer, der diese Stimmen kennt, ist der 80-jährige Venanzi Flepp, der sein gesamtes Leben in Curaglia verbracht hat. Er sitzt vor dem Kachelofen des Holzchalets, in dem er seit seiner Kindheit lebt. Er selber wolle nichts Schlechtes sagen über die Ideen der Neuzugezogenen, sagt er. Hier oben etwas zu verändern sei jedoch nicht so einfach. «Viele der Alteingesessenen haben den Glauben an eine Zukunft im Tal aufgegeben.» Flepp ist kein Nostalgiker, das Leben früher sei hart gewesen, sagt er, es gab weder Strom noch Geld. Aber an Kindern habe es nie gefehlt. «Was wir hier brauchen, sind neue Arbeitsstellen.» Auch seine Frau ist im Tal aufgewachsen. Die Ideen der Jungen seien zum Vorteil für das Dorf, sagt sie. «Die Veränderungen müssen wir hinnehmen. Das Rad lässt sich ohnehin nicht zurückdrehen, und das ist gut so.»
Am Dorfausgang von Curaglia, bevor sich die Strasse in Kurven weiter taleinwärts schlängelt, steht am nächsten Morgen Tabea Baumgartner hinter ihrem Marktstand, den sie hier einmal in der Woche aufbaut. Sie verkauft, was das Tal hergibt. Käse von den Geissen, die hier zu Hunderten weiden. Würste aus der Dorfmetzgerei, Teemischungen, Felle, bald soll gesponnene Schafwolle dazukommen. «Ich hoffe, dass diese Region eines Tages zu einem Beispiel wird», sagt Baumgartner. Dafür, wie abgeschiedene Bergregionen überleben können. Im Einklang mit Natur und Traditionen, ohne sich an Grossinvestoren zu verkaufen. Am Ende werden es nüchterne Zahlen sein, die im Val Medel über die Zukunft entscheiden. Es braucht Arbeitsplätze, Familien und ein andauerndes Gespräch zwischen Jung und Alt. Damit die beiden Welten nicht auseinander brechen.
«Früher färbte das Blut die Gassen rot, wenn im Dorf ein Schwein geschlachtet wurde. Ich lebe seit 80 Jahren hier heroben, aufgewachsen bin ich in einer Grossfamilie. Mein Vater war ein Kleinbauer. Im Dor aden gab es in meiner Kindheit noch keine Bananen. Dafür Mehl, Zucker, Reis, Kon türe. Das Nötigste eben. Geld war immer knapp. Wollte jemand eine Anschaffung tätigen, musste er einen Kredit aufnehmen oder ein Rind verkaufen. Die gesamte Arbeit auf dem Hof machten wir noch von Hand. Fliessendes Wasser gab es nur am Brunnen. Die Schule dauerte von Oktober bis April, im Sommer halfen wir Kinder den Bauern auf der Alp. Ich arbeitete zuerst auf dem Hof meines Vaters, später verdiente ich mein Geld als Staumauer-Wärter. Das Leben war härter früher, aber an Kindern fehlte es nie. In den Gassen im Dorf war immer Leben. Das ist vorbei. Was wir hier brauchen, sind neue Arbeitsstellen. Der Investor Samih Sawiris zum Beispiel mit seinem Grossprojekt drüben in Andermatt, der denkt in die richtige Richtung. Hier in Curaglia etwas zu verbessern, wird aber schwierig, so abgelegen, wie wir sind.»
«Ich glaube, manche Einheimische verkennen den Wert ihrer Heimat. Einige, vor allem Ältere, sehen eher das, was verloren geht: Junge, die wegziehen, immer weniger Kinder, Gleichaltrige sterben. Es gibt aber auch die andere Seite. Junge Menschen lassen sich nieder, es entstehen spannende Projekte. Ich denke lieber in Möglichkeiten als in Problemen. Einige sind der Meinung, dass touristische Grossprojekte der Region eine bessere Zukunft ermöglichen würden, ich denke jedoch, dass diese unserem Tal nicht viel bringen würden. Wir wollen einen nachhaltigen Tourismus. Es kommen immer mehr Menschen zu uns im Hotel auf Besuch, die genau diesen naturnahen Lebensraum suchen. Die Interesse mitbringen für die lokale Kultur mit ihren Traditionen. Darauf möchten wir weiter aufbauen. Ich würde mir wünschen, dass noch mehr Menschen hierher ziehen und ein Teil jener Jungen zurückkehrt, die weggezogen sind. Damit wir gemeinsam unsere Vision weiter umsetzen können. Was mir hier oben manchmal fehlt, ist der soziale Austausch, insbesondere in der Nebensaison, wenn wir weniger Gäste im Haus haben. Aber ich gehe hier nicht so bald wieder weg, das steht für mich fest.»
«Wir sind vor zwei Jahren nach Curaglia gezogen. Hier betreiben wir einen kleinen landwirtschaftlichen Betrieb mit einigen Kühen, Schafen und Geissen. Wir wohnen in einem Haus im Dorf und bewirtschaften mehrere Felder im Tal. Wir hatten früher einen Hof in der Ostschweiz. Dort war es uns jedoch zu eng, mir fehlten der weite Blick und die Berge. So haben wir dann im Val Medel fünf Sommer auf einer Sennalp verbracht. Man sagt oft, die Menschen hier heroben seien verschlossen. Das haben wir anders erlebt. Wir fanden rasch Zugang, lernten die Bewohner des Tals und die Gegend schätzen. Bis wir schliesslich merkten, hier möchten wir bleiben. Es war ein Glücksfall, dass wir dann einen Bauern kennenlernten, der seinen Hof verkaufen wollte. Uns gefällt die Landschaft. Es gibt keine Touristentempel, die im Sommer wie tot daliegen. Inzwischen sind einige junge Paare hierher gezogen, einmal in der Woche trifft man sich im Gesangsverein. Wir fühlen uns bereits sehr zuhause. Andere gehen nach Kanada, uns hat es ins Val Medel verschlagen. Hier bleiben wir.»