Da steht er in seinem Trainingsraum und boxt gegen einen Unsichtbaren: Ando Hakobs Fäuste schneiden durch die Luft wie Propellerflügel, die einzelnen Schläge verschwimmen vor den Augen des Betrachters. Rechter Haken, linker Haken, Aufwärtshaken, wumm, wumm, wumm. Jemand hat bei Youtube ein Video von ihm hochgeladen, «The world’s fastest boxer» steht darüber. Mit vollem Namen heisst der 28-Jährige Andranik Hakobian. Zu umständlich, wie er findet, weshalb er sich für die Kurzform entschieden hat. In Hakobs Leben muss jedes Detail stimmen. Denn er hat sich einem einzigen Ziel verschrieben: Er will der beste Boxer der Welt werden.
Ando Hakob – 68 Kilo schwer, 1,75 Meter gross, Weltergewicht – beendet sein Training und setzt sich schwitzend auf einen kleinen Klappstuhl. Schweissperlen auf der Stirn, sein Atem geht rasch. Er ist keiner, dem Bescheidenheit liegt: «Ich bin heute der beste Boxer der Schweiz. Und wer das Gegenteil behauptet, kann sich gerne mit mir im Ring messen.» Aufmerksamkeit erregen ist Teil seiner Strategie. In den sozialen Medien hat er sich eine breite Fanbasis erarbeitet, die er fast täglich mit Bildern und Videos versorgt. Ob auf Facebook, in Zeitungsinterviews oder im Ring: Hakob weiss sich in Szene zu setzen. Und er kann boxen, davon zeugen seine sportlichen Erfolge. Hakob wurde Amateur-Schweizermeister, Süddeutscher Meister und gewann in Deutschland das bedeutendste Vereinsturnier des Landes, unter anderem mit einem Sieg gegen den damaligen russischen Vizemeister. Dass Hakob zu den Besten der Schweiz gehört, ist in der Boxszene wenig umstritten. Doch statt um die grossen Titel kämpft er weiterhin um die eigene Existenz.
«Erfolgreiche Boxer haben so gut wie immer eine schwierige Vergangenheit», sagt Hakob und meint damit auch sich selbst. Aufgewachsen ist er in einem kleinen Dorf im Nordosten Armeniens, sein Vater war Elektroingenieur. Weil er keine Arbeit fand, zog die Familie von der Hauptstadt Jerevan auf den Bauernhof von Hakobs Grossvater. Dort stand der kleine Andranik jeden Tag auf dem Feld, half beim Pflügen, Säen und Ernten. «Es war ein hartes Leben», sagt Hakob. An den Füssen trug er stets dieselben alten Gummistiefel, um die Hüfte diente ihm ein altes Seil als Gurt. Es gab Tage, an denen die Familie nichts zu essen hatte.
«Dann ereignete sich ein Unfall»
Als er sieben wurde, entschieden sich die Eltern zur Flucht in ein neues Leben. In Deutschland, so hofften sie, würden ihre drei Kinder eine bessere Zukunft finden. Die Erinnerungen an die Flucht werde er nie vergessen, sagt Hakob: Zusammen mit seiner Familie musste er nachts über zugefrorene Flüsse laufen, in Polen wohnten sie in einem schmutzigen Zimmer, zu fünft auf zehn Quadratmetern. «Die Wände waren voll mit Schimmel, es hatte Kakerlaken. Bis heute denke ich daran zurück, wenn ich mich hier in der Schweiz über etwas beschweren möchte.» Von Polen reiste die Familie weiter nach Deutschland, Frankreich und Spanien. Ihr Gesuch um Asyl wurde überall abgelehnt.
Drei Jahre nachdem sie ihre Heimat verlassen hatten, gelangten die Hakobians 1999 in die Schweiz, erst nach Genf, dann in einen Zivilschutzkeller im Aargau. Schliesslich konnten sie in einem Flüchtlingsheim eine kleine Wohnung beziehen. Sie waren Wirtschaftsflüchtlinge, und auch in der Schweiz standen ihre Chancen schlecht. Die Ungewissheit, ob er in der Schweiz würde bleiben können, habe wie Steine auf ihm gelastet, sagt Hakob. «Stell dir vor, jeden Tag hast du Angst, dass du abgeschoben wirst. Dass am Morgen früh die Polizei kommt und an die Türen klopft. Bäm, bäm, bäm, und abschieben.» Was das bedeutete, wusste Hakob von der Schule, wo manchmal am Morgen ein Stuhl frei blieb und der Mitschüler nie mehr wiederkam. Es war ein Schicksal, das auch Hakob drohte. «Dann ereignete sich in unserer Familie ein Unfall.» Ando Hakob erzählt bis heute nur stockend davon.
Die Streitereien zwischen seinen Eltern begleiteten ihn die ganze Kindheit hindurch, nach der Ankunft in der Schweiz wurden die Auseinandersetzungen heftiger. Der Vater, der zur Rückkehr nach Armenien drängte, ging immer wieder auf die Mutter los. War Hakob zuhause, stellte er sich dazwischen. «Meine Mutter war mir heilig. Ich sagte meinem Vater, er solle sie nicht anfassen.» Oft bekam Hakob selber die Fäuste seines Vaters zu spüren. Als er eines Tages am Mittag von der Schule nach Hause kam, stand die Polizei mit einem Grossaufgebot vor dem Wohnhaus. Der Vater, so einer der Beamten, habe die Mutter mit einem Messer angegriffen. Sie erholte sich von den Verletzungen, der Vater wurde nach Armenien abgeschoben. Doch im Leben der Familie kehrte keine Ruhe ein. Der Vater drohte der Mutter weiterhin, zuerst aus Armenien. Eines Tages stand er plötzlich vor der Wohnung der Familie in Ennetbaden. Die Polizei verhaftete ihn, die Behörden reagierten und entschieden: Die Familie darf bleiben. Eine Rückweisung nach Armenien sei aufgrund der anhaltenden Drohungen nicht mehr zumutbar.
In jener Zeit wurde Ando Hakob zum Boxer. Er, damals ein schmächtiger Junge, wollte sich nicht länger hänseln lassen und begann sich zu wehren. Wollte Dampf ablassen. Zuerst auf der Strasse, dann wechselte er in den Boxclub. Nur ein Jahr, nachdem er mit dem Boxsport begonnen hatte, wurde Ando Hakob Amateur-Schweizermeister. Er schloss die kaufmännische Ausbildung ab und setzte fortan alles auf den Sport. «Ich sagte mir, ich lebe im sichersten Land der Welt. Wo, wenn nicht hier, soll ich es riskieren und meinen Traum leben?» Wegen eines Streits mit Swiss Boxing, dem schweizerischen Boxverband, setzte er seine Karriere zuerst in Deutschland fort. Nach seinem Titel als Süddeutscher Meister und dem Sieg am Internationalen Chemnitzer Boxturnier wurde der deutsche Boxverband auf ihn aufmerksam. Er war im Gespräch, um für Deutschland an der renommierten World Series of Boxing anzutreten, der weltbekannte Boxmanager Egis Klimas lud ihn ein, in die USA zu kommen. Alles schien möglich.
Ein schmächtiger Junge lässt Dampf ab
Doch was Hakob fehlte, war ein gültiger Reisepass. Mit dem Schweizer Ausländerausweis konnte er seine Karriere in Deutschland nicht fortsetzen. Weil Armenien sich weigerte, ihm einen Reisepass auszustellen, kehrte Hakob zurück in die Schweiz. Seit zwei Jahren ist er inzwischen als Profi registriert. Seine bisherige Bilanz ist makellos: neun Kämpfe, neun Siege, davon fünf durch K.O. Zuschreiben kann er diese Erfolge allein sich selber. Hakob ist Trainer, Manager und Promoter in einem. «Ich bin mein bester Mitarbeiter», sagt er, «ich halte meinen Kopf in den Ring.» Er hätte gerne einen Manager, doch der richtige sei bisher noch nicht gekommen. Also macht er es lieber selbst.
Es fehlt das Geld
Es ist ein hartes Leben, das der vielleicht beste Boxer der Schweiz führt. «Finanziell lohnt sich das überhaupt nicht. Ich lebe seit fünf Jahren von 400 Franken im Monat.» Seine täglichen Bedürfnisse deckt er zu einem grossen Teil über Tauschgeschäfte. Mit Restaurants, Kleiderlabels, Yogastudio oder Physiotherapie – über 20 Sponsoringverträge hat er abgeschlossen. Er verhilft seinen Partnern zu mehr Öffentlichkeit, im Gegenzug kann er ihre Angebote gratis nutzen. Hakob weiss sich zu helfen, in einer entscheidenden Sache jedoch fehlt ihm das Geld. Möchte er auf der Weltrangliste nach oben gelangen, muss er gegen höher klassierte Gegner gewinnen. Einen solchen Gegner herauszufordern kostet mehrere tausend Franken – Mittel, über die Hakob nicht verfügt. «Stattdessen versuche ich, meine Wunschgegner auf den sozialen Medien so lange zu provozieren, bis sie zu einem Kampf einwilligen.» Solche Wettkämpfe sind eine Möglichkeit, wie Hakob die Spitze erobern könnte. Vor Kurzem hat er den Schweizer Pass beantragt. Er hofft, dass es einfacher wird, wenn er ihn hat.
Dann kann er endlich wieder im Ausland boxen, in den USA, an den Olympischen Spielen vielleicht. Vorwärts geht es für Hakob vorerst in kleinen Schritten. Anfang Oktober kämpfte er in einem Berner Parkhaus. Bis am Tag zuvor hatte er noch Sponsoren gesucht, T-Shirts drucken lassen, auf Facebook die letzten Tickets verkauft. Schliesslich stieg er vor 800 Zuschauern in den Ring. Rechter Haken, linker Haken, Aufwärtshaken, wumm, wumm, wumm. Sein tiefer klassierter, aber technisch starker Gegner aus Georgien ging in der achten Runde zu Boden. Hakob errang seinen neunten Sieg als Profiboxer und rutschte auf der Weltrangliste um 90 Plätze nach oben. Seine neue Position: 265 von 2192. Bis zur Spitze ist es noch ein weiter Weg.