Mitte November 2016, Landratssaal Liestal. Regierungsrätin Sabine Pegoraro steht vor dem Parlament und spricht beruhigende Worte: «Im Rahmen der vergangenen Vorfälle bestand nie eine direkte Gefährdung der Anwohnerschaft», antwortete die Umweltschutzdirektorin auf die kritischen Fragen mehrerer Landräte.
In den Wochen zuvor kam es auf dem Areal der Firma Cabb in Pratteln zu mehreren Chemie-Ereignissen bei denen giftige Gase ausgetreten sind. Wegen einer defekten Abluftleitung entwich Chlor-, Salzsäure- und Schwefeldioxidgas, bei einem Abfüllprozess gelangte eine unbekannte Menge Chloroschwefelsäure in die Umwelt.
In zwei Fällen erfuhr die Polizei davon nur durch Zufall: Weil ein vorbeifahrender Autofahrer einen beissenden Geruch meldete und weil Beamte bei einer Begehung vor Ort ausströmendes Gas bemerkten. Bereits in der Vergangenheit ereigneten sich auf dem Areal des Unternehmens immer wieder schwere Zwischenfälle, darunter eine Explosion mit Todesfolge.
Vier Ereignisse, vier Entwarnungen – aber kaum Belege
Bei allen vier Ereignissen im vergangenen Herbst habe für Mensch und Umwelt jedoch nie eine Gefahr bestanden, stellte auch die Sicherheitsdirektion in mehreren Medienmitteilungen klar. Die durchgeführten Messungen hätten ergeben, dass nur geringe Stoffmengen freigesetzt worden seien. Die kantonale Chemiewehr («ABC-Wehr Basel-Landschaft») habe im Einsatz gestanden. Die Kommunikation liess eigentlich keine Zweifel zu: Die Behörde war vor Ort, die Lage unter Kontrolle, die gemessenen Gaskonzentrationen waren tief.
Wie sich zeigt, kann der Kanton einen Grossteil dieser Aussagen jedoch nicht belegen. Die Behörden haben zu keinem der vier Ereignisse eigene Luftmessungen auf dem oder um das Areal der Cabb durchgeführt. Eine Information war nachweislich falsch: Die kantonale ABC-Wehr wurde zu keinem der Ereignisse aufgeboten. Und der Kanton verfügt über keine schriftlichen Informationen darüber, welche chemischen Stoffe in welcher Konzentration in die Luft gelangt sind.
Unübersichtliche Organisation
Diese Erkenntnis ist das Resultat einer Recherche, bei der sich die Behörden in Widersprüche verstrickten und bei der deutlich wurde, wie unübersichtlich in Baselland im Ereignisfall die Organisation der kantonalen Chemiewehr und der Luftmessung geregelt ist.
Die erste Anfrage beantwortet der Kanton Anfang Januar: Baselland verfüge über keine eigenen Fachleute, um im Ereignisfall Luftmessungen durchzuführen und habe diese Aufgabe, wie auch Basel-Stadt, an die private Industriefeuerwehr Regio Basel ausgelagert. Deshalb sei zu den letzten Zwischenfällen bei der Cabb die Messgruppe der Industriefeuerwehr aufgeboten worden. «Die Rapporte erfolgten jeweils schriftlich an das Amt für Bevölkerungsschutz und Militär», sagt Amtsleiter Marcus Müller.
Auf die Bitte um Einsicht in die Messrapporte reagiert die Behörde zuerst ausweichend und verweist auf die Industriefeuerwehr Regio Basel, Standort Schweizerhalle. Auf Nachfrage korrigiert Amtsleiter Müller schliesslich einen Teil seiner Aussagen. «Unser Verantwortlicher für die ‹Kantonale ABC-Wehr› hat keine Rapporte von diesen Ereignissen erhalten oder eingefordert», so Marcus Müller. Die ABC-Wehr sei für keines der Ereignisse aufgeboten worden. Ein eklatanter Widerspruch zur einen Medienmitteilung der Polizei und zur früheren Aussage von Müller selber.
Kanton ohne Messergebnisse
Im Grundsatz stimmte die Auskunft des Amtes. Die Messgruppe der Industriefeuerwehr Regio Basel stand bei allen Ereignissen im Einsatz, wie der Geschäftsleiter der IFRB bestätigt, allerdings mit einem entscheidenden Unterschied: Aufgeboten hatte sie nicht der Kanton, sondern die Cabb selbst. Die Messergebnisse hat der Kanton deshalb nie erhalten.
Marcus Müller erklärt das so: Wenn die Industriefeuerwehr im Auftrag des Kantons im Einsatz steht, handelt sie als sogenannte «ABC-Wehr Basel-Landschaft» und ist verpflichtet, dem Amt für Bevölkerungsschutz zu rapportieren. Wird die IFRB jedoch von einem Betrieb aufgeboten, wie im Fall der Cabb, agiert sie als «private Betriebswehr» und ist nicht zum Rapport verpflichtet. Je nach Auftraggeber gelten für die Industriefeuerwehr unterschiedliche Bestimmungen. Weshalb der Kanton die Industriefeuerwehr nicht selber aufbot und weshalb die Messrapporte für keines der Ereignisse angefordert wurden, liess die Sicherheitsdirektion auf Anfrage unbeantwortet.
Information ohne Prüfung
Offenbar stellten die fehlenden Rapporte für die Behörde kein grösseres Problem dar. Die Polizei informierte jeweils detailliert über die Resultate der Messungen:
21. September 2016: Vor Ort durchgeführte Messungen ergaben, dass für Mensch und Umwelt zu keinem Zeitpunkt eine Gefährdung bestand.
6. Oktober 2016: Die Chlorgaswolke im Aussenbereich verflüchtigte sich relativ rasch. Vor Ort durchgeführte Messungen ergaben, dass für Mensch und Umwelt zu keinem Zeitpunkt eine Gefährdung bestand.
15. November 2016: Gemäss den vor Ort vorgenommenen Messungen trat eine geringe Menge des Stoffes aus. Eine Gefahr für Mensch und Umwelt bestand zu keinem Zeitpunkt.
Schriftliche Berichte für die Messungen lagen dem Kanton keine vor. Worauf stützte sich also die Polizei in ihren Meldungen? Diese antwortet auf Anfrage: «Der Mediendienst berief sich auf die mündlichen Angaben des entsprechenden Einsatzleiters vor Ort.» In der Regel handelt es sich dabei um einen Mitarbeiter der Industriefeuerwehr Regio Basel, jeweils im Einsatz im Auftrag der Cabb. Es war dieselbe Quelle, auf die sich auch Sabine Pegoraro gegenüber dem Landrat stützte. Die Aussagen blieben bis heute durch den Kanton ungeprüft.
Die Industriefeuerwehr Regio Basel AG entstand Ende 2012 aus einem Zusammenschluss der Feuerwehren Johnson Controls Basel und Schweizerhalle sowie der Feuerwehr der Cabb AG. Die IFRB ist eine Aktiengesellschaft und beschäftigt insgesamt 61 Mitarbeiter. Zusätzlich wird die IFRB von insgesamt 140 Milizfeuerwehrangehörigen unterstützt. Ihr Hauptauftraggeber sind die privaten Industriebetriebe. Daneben erbringt die IFRB Leistungen für die Kantone Basel-Stadt und Baselland, hauptsächlich im Bereich Schadstoffmessungen.
Im Ereignisfall bietet die Industriefeuerwehr dafür ihre eigene Messgruppe auf. Diese bildet sich ausschliesslich aus Milizangehörigen und besteht aus Fachmitarbeitern (Laboranten, Chemie- und Pharmatechnologen) verschiedener Chemie- und Pharmafirmen wie Novartis, BASF und Valorec. Die Zusammenarbeit haben beide Kantone vertraglich mit der IFRB geregelt. Die Einsatzfahrzeuge und Messgeräte am Standort Schweizerhalle befinden sich im Besitz des Kantons Baselland. Über die vollständigen Vertragsinhalte wollen die Kantone keine Auskunft geben.
Marco Brossi, international erfahrener Experte in Chemiewehr und ehemaliger Leiter der nationalen Alarmzentrale, will sich auf Anfrage zu der Auslagerung nicht äussern. Er sei im Auftrag der Novartis bei der Gründung der IFRB beteiligt gewesen und unterliege weiterhin einer Geheimhaltungsverpflichtung. Mehrere angefragte Staatsrechtler äussern sich vorsichtig kritisch über die Auslagerung. Markus Schefer von der Universität Basel weist darauf hin, dass hoheitliche Aufgaben durch unparteiische und unvoreingenommene Organe durchgeführt werden müssen. Angesichts der Komplexität der Auslagerung will er sich – wie auch andere Staatsrechtler – nicht weiter dazu äussern.